Was die Irre sprach von Joachim Ringelnatz

Wir armen Schizophrenen!
Wir sind nur ein Begriff.
Wir lassen uns endlos dehnen.
Aber es war ein englisches Schiff.
 
Ich weiß, Sie möchten was fragen;
Seien Sie ruhig ganz streng zu mir.
Sie sind nur glücklich, und ein Tier –
Muß man treten und schlagen.
 
Die Blicke sind selbstverständlich
10 
Bei Kapitänen Befehle.
11 
Ich habe auch Eure Seele,
12 
Aber – die Schwester lügt. Sie lügt schändlich.
 
13 
Vielleicht ist Hingeben Schande.
14 
Kein Tier weiß, was es redlich tut.
15 
So wahr er tausend Meter vom Lande –
16 
Amen – im Wasser ruht.
 
17 
Nein danke! Ich bin nicht müde.
18 
Oder spreche ich Ihnen zu viel? –
19 
Die Quintessenz der Güte
20 
Liegt schließlich nicht im Peitschenstiel.
21 
Er hebt oder senkt die Blüte. –
22 
Nun aber genug im grausamen Spiel.
23 
Sie haben doch recht! Ich bin müde.
 
24 
Living or dead – Mir riecht sich das gleich.
25 
Aber wären sie englisch ersoffen,
26 
Sie kämen vielleicht auch ins Himmelreich. –
27 
Amen. – Wir wollen es hoffen. –
28 
Jetzt ist er zum ersten Male weich.
 
29 
Sehen Sie nur: Wie der Oberarzt schaut!
30 
Er soll viel strenger zu mir sein.
31 
Ich bin doch allein. Weil ich ein Schwein
32 
Bin. Ich bin eine Seemannsbraut
33 
Tausend Meter vom Lande. –
34 
Die Schwester hält das für Schande.
 
35 
Ihr schmutziges Volk! Euer Captain ist fort. –
36 
Nie wieder die Stiefel lecken muß.
37 
Ja, führt mich hinaus! Wir treffen uns dort. –
38 
Wo Anfang ist, da ist auch ein Schluß.
39 
Weil Ihr uns um unser freieres Sehnen
40 
Beneidet. – Hier fragt sich: Wer führt das Wort?
41 
Ihr armen Schizophrenen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Was die Irre sprach“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
41
Anzahl Wörter
240
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Was die Irre sprach“ ist von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettist, der von 1883 bis 1934 lebte. Die Veröffentlichung des Gedichts lässt sich in die späte Phase des Autors einordnen.

Auf den ersten Blick erweckt das Gedicht einen verstörenden, verwirrenden und melancholischen Eindruck. Die ungewöhnliche Perspektive, die das lyrische Ich einnimmt, lässt den Leser in die Gedankenwelt einer geistig verwirrten Person hineinblicken - daher die Bezeichnung „die Irre“. Durch die betont fragmentierten und assoziativen Aussagen wirkt der Text psychisch zerrissen und inkohärent, was die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs ausdrückt.

Das Gedicht besteht dabei aus acht Strophen unterschiedlicher Länge, in denen das lyrische Ich die Trennung zwischen seiner eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung der Anderen artikuliert, sich über seine Schizophrenie äußert und sich selbst als geistig krank bezeichnet. Es finden sich Anspielungen auf eine Seemannsbraut, die offenbar in der Seefahrt eine besondere Bedeutung beigemessen wird, möglicherweise als metaphorische Bezeichnung für die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs. Die schroffen Übergänge zwischen den einzelnen Themen unterstreichen dabei die Fragmentierung der Wahrnehmung des lyrischen Ichs.

Die Form des Gedichts, das aus vierzeiligen Strophen und unterschiedlichen Verslängen besteht, spiegelt das chaotische Gedankenleben des lyrischen Ichs wider. Zudem wechselt das lyrische Ich im Verlauf des Gedichts häufig die Perspektive, was weitere Verwirrung hervorruft. Zusammen mit der Ausdrucksweise, die durch ihre abrupten Themenwechsel gekennzeichnet ist, formt die spezielle Versstruktur das Bild eines kranken Geistes.

Die Sprache des Gedichts ist fließend, jedoch verwirrend und voller Widersprüche. So wechseln nachdenkliche und eher poetische Passagen mit plötzlichen Ausbrüchen und provokativen Aussagen. Obwohl der Sprachstil teils komplex und wortgewaltig ist, bleibt er doch immer eingängig und klar in der Aussage. Insgesamt legitimiert das Gedicht durch seinen Stil die Vielschichtigkeit und Unberechenbarkeit einer schizophrenen Wahrnehmung, ohne diese zu romantisieren oder zu stigmatisieren. Es handelt sich somit um eine detaillierte und einfühlsame Darstellung von geistiger Zerrissenheit.

Weitere Informationen

Joachim Ringelnatz ist der Autor des Gedichtes „Was die Irre sprach“. Im Jahr 1883 wurde Ringelnatz in Wurzen geboren. Im Jahr 1928 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 240 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 41 Versen. Die Gedichte „7. August 1929“, „Abendgebet einer erkälteten Negerin“ und „Abermals in Zwickau“ sind weitere Werke des Autors Joachim Ringelnatz. Zum Autor des Gedichtes „Was die Irre sprach“ haben wir auf abi-pur.de weitere 560 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Joachim Ringelnatz

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Joachim Ringelnatz und seinem Gedicht „Was die Irre sprach“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz (Infos zum Autor)

Zum Autor Joachim Ringelnatz sind auf abi-pur.de 560 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.