Waldeinsamkeit von Heinrich Heine

Ich hab’ in meinen Jugendtagen
Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen;
Die Blumen glänzten wunderbar,
Ein Zauber in dem Kranze war.
 
Der schöne Kranz gefiel wohl Allen,
Doch der ihn trug hat Manchem mißfallen;
Ich floh den gelben Menschenneid,
Ich floh in die grüne Waldeinsamkeit.
 
Im Wald, im Wald! da konnt’ ich führen
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Ein freies Leben mit Geistern und Thieren;
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Feen und Hochwild von stolzem Geweih’,
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Sie nah’ten sich mir ganz ohne Scheu.
 
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Sie nah’ten sich mir ganz ohne Zagniß,
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Sie wußten das sei kein schreckliches Wagniß;
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Daß ich kein Jäger, wußte das Reh,
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Daß ich kein Vernunftmensch, wußte die Fee.
 
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Von Feenbegünstigung plaudern nur Thoren –
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Doch wie die übrigen Honoratioren
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Des Waldes mir huldreich gewesen, fürwahr
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Ich darf es bekennen offenbar.
 
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Wie haben mich lieblich die Elfen umflattert!
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Ein luftiges Völkchen! das plaudert und schnattert!
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Ein Bischen stechend ist der Blick,
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Verheißend ein süßes, doch tödtliches Glück.
 
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Ergötzten mich mit May-Tanz und May-Spiel,
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Erzählten mir Hofgeschichten, zum Beispiel:
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Die skandalose Chronika
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Der Königin Titania.
 
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Saß ich am Bache, so tauchten und sprangen
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Hervor aus der Fluth, mit ihrem langen
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Silberschleier und flatterndem Haar,
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Die Wasserbacchanten, die Nixenschaar.
 
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Sie schlugen die Zither, sie spielten auf Geigen,
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Das war der famose Nixen-Reigen;
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Die Posituren, die Melodey,
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War klingende, springende Raserey.
 
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Jedoch zu Zeiten waren sie minder
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Tobsüchtig gelaunt, die schönen Kinder;
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Zu meinen Füßen lagerten sie,
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Das Köpfchen gestützt auf meinem Knie.
 
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Tällerten, trillerten welsche Romanzen,
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Zum Beispiel das Lied von den drei Pomeranzen,
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Sangen auch wohl ein Lobgedicht
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Auf mich und mein nobeles Menschengesicht.
 
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Sie unterbrachen manchmal das Gesinge
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Lautlachend, und frugen bedenkliche Dinge,
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Zum Beispiel: „Sag’ uns zu welchem Behuf
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„Der liebe Gott den Menschen schuf?
 
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„Hat eine unsterbliche Seele ein Jeder
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Von Euch? Ist diese Seele von Leder
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Oder von steifer Leinwand? Warum
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Sind Eure Leute meistens so dumm?“
 
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Was ich zur Antwort gab, verhehle
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Ich hier, doch meine unsterbliche Seele,
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Glaubt mir’s, ward nie davon verletzt,
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Was eine kleine Nixe geschwätzt.
 
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Anmuthig und schalkhaft sind Nixen und Elfen;
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Nicht so die Erdgeister, sie dienen und helfen
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Treuherzig den Menschen. Ich liebte zumeist
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Die, welche man Wichtelmännchen heißt.
 
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Sie tragen Rothmäntelchen, lang und bauschig,
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Die Miene ist ehrlich, doch bang und lauschig;
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Ich ließ nicht merken, daß ich entdeckt,
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Warum sie so ängstlich die Füße versteckt.
 
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Sie haben nämlich Entenfüße
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Und bilden sich ein, daß Niemand es wisse.
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Das ist eine tiefgeheime Wund’,
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Worüber ich nimmermehr spötteln kunnt’.
 
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Ach Himmel! wir Alle gleich jenen Zwergen,
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Wir haben ja Alle Etwas zu verbergen;
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Kein Christenmensch, wähnen wir, hätte entdeckt,
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Wo unser Entenfüßchen steckt.
 
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Niemals verkehrt ich mit Salamandern,
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Und über ihr Treiben erfuhr ich von andern
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Waldgeistern sehr wenig. Sie huschten mir scheu
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Des Nachts wie leuchtende Schatten vorbei.
 
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Sind spindeldürre, von Kindeslänge,
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Höschen und Wämmschen anliegend enge,
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Von Scharlachfarbe, goldgestickt;
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Das Antlitz kränklich, vergilbt und bedrückt.
 
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Ein güldnes Krönlein, gespickt mit Rubinen,
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Trägt auf dem Köpfchen ein Jeder von ihnen;
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Ein Jeder von ihnen bildet sich ein,
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Ein absoluter König zu sein.
 
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Daß sie im Feuer nicht verbrennen,
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Ist freilich ein Kunststück, ich will es bekennen;
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Jedoch der unentzündbare Wicht,
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Ein wahrer Feuergeist ist er nicht.
 
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Die klügsten Waldgeister sind die Alräunchen,
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Langbärtige Männlein mit kurzen Beinchen,
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Ein fingerlanges Greisengeschlecht;
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Woher sie stammen, man weiß es nicht recht.
 
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Wenn sie im Mondschein kopfüber purzeln,
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Das mahnt bedenklich an Pissewurzeln;
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Doch da sie mir nur Gutes gethan,
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So geht mich nichts ihr Ursprung an.
 
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Sie lehrten mir kleine Hexereien,
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Feuer besprechen, Vögel beschreien,
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Auch pflücken in der Johannisnacht
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Das Kräutlein, das unsichtbar macht.
 
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Sie lehrten mich Sterne und Zeichen deuten,
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Sattellos auf dem Winde reiten,
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Auch Runen-Sprüche, womit man ruft
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Die Todten hervor aus ihrer Gruft.
 
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Sie haben mir auch den Pfiff gelehrt,
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Wie man den Vogel Specht bethört,
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Und ihm die Springwurz abgewinnt,
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Die anzeigt, wo Schätze verborgen sind.
 
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Die Worte, die man beim Schätzegraben
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Hinmurmelt, lehrten sie mich, sie haben
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Mir alles expliciert – umsunst!
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Hab nie begriffen die Schatzgräberkunst.
 
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Wohl hatt’ ich derselben nicht nöthig dermalen,
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Ich brauchte wenig, und konnt’ es bezahlen,
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Besaß auch in Spanien manch luftiges Schloß,
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Wovon ich die Revenüen genoß.
 
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O, schöne Zeit! wo voller Geigen
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Der Himmel hing, wo Elfenreigen
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Und Nixentanz und Koboldscherz
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Umgaukelt mein märchentrunkenes Herz!
 
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O, schöne Zeit! wo sich zu grünen
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Triumphespforten zu wölben schienen
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Die Bäume des Waldes – ich ging einher,
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Bekränzt, als ob ich der Sieger wär’!
 
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Die schöne Zeit, sie ist verschlendert,
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Und alles hat sich seitdem verändert,
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Und ach! mir ist der Kranz geraubt,
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Den ich getragen auf meinem Haupt.
 
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Der Kranz ist mir vom Haupt genommen,
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Ich weiß es nicht, wie es gekommen;
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Doch seit der schöne Kranz mir fehlt,
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Ist meine Seele wie entseelt.
 
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Es glotzen mich an unheimlich blöde
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Die Larven der Welt! Der Himmel ist öde,
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Ein blauer Kirchhof, entgöttert und stumm.
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Ich gehe gebückt im Wald herum.
 
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Im Walde sind die Elfen verschwunden,
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Jagdhörner hör’ ich, Gekläffe von Hunden;
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Im Dickicht ist das Reh versteckt,
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Das thränend seine Wunden leckt.
 
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Wo sind die Alräunchen? ich glaube, sie halten
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Sich ängstlich verborgen in Felsenspalten.
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Ihr kleinen Freunde, ich komme zurück,
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Doch ohne Kranz und ohne Glück.
 
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Wo ist die Fee mit dem langen Goldhaar,
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Die erste Schönheit, die mir hold war?
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Der Eichenbaum, worin sie gehaust,
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Steht traurig entlaubt, vom Winde zerzaust.
 
149 
Der Bach rauscht trostlos gleich dem Styxe;
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Am einsamen Ufer sitzt eine Nixe,
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Todtblaß und stumm, wie’n Bild von Stein,
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Scheint tief in Kummer versunken zu sein.
 
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Mitleidig tret’ ich zu ihr heran –
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Da fährt sie auf und schaut mich an,
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Und sie entflieht mit entsetzten Mienen,
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Als sei ihr ein Gespenst erschienen.

Details zum Gedicht „Waldeinsamkeit“

Anzahl Strophen
39
Anzahl Verse
156
Anzahl Wörter
931
Entstehungsjahr
1851
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht mit dem Titel „Waldeinsamkeit“ wurde von Heinrich Heine verfasst. Heine lebte von 1797 bis 1856 und gilt als einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Schriftsteller und Journalisten des 19. Jahrhunderts.

Auf den ersten Blick ruft das Gedicht Bilder einer idyllischen, mystischen und naturnahen Vergangenheit hervor. In seiner Jugendzeit hat das lyrische Ich offenbar eine Phase erlebt, in der es sich abseits der Gesellschaft in der Freiheit des Waldes aufgehalten hat, in enger Beziehung zu Geistern und Tieren. In den Anfängen des Gedichts wird eine Zeit voller Harmonie, Freiheit und Lebensfreude abgebildet, die das lyrische Ich im Zusammenspiel mit Natur und Geistern genossen hat.

Doch scheint diese Zeit, gekennzeichnet durch einen symbolischen Kranz, der dem lyrischen Ich in der Jugend verliehen wurde, vorbei zu sein. Es erzählt von der Trauer und Leere, die es seitdem empfindet und beschreibt seine heutige Situation als entgöttert und öde. Interessant ist dabei, dass die Natur und ihre Geister sich vor dem lyrischen Ich zurückziehen, als sei es selbst zum Unheil geworden. Dies lässt darauf schließen, dass das lyrische Ich seine Unschuld und Reinheit verloren hat und so nicht mehr eins mit der Natur sein kann.

Das Gedicht ist in vierzeilige Strophen gegliedert und hat eine einheitliche, klare Struktur. Die Sprache ist sehr bildhaft und metaphorisch. Die magischen und übernatürlichen Elemente dienen dazu, die verlorene Harmonie als etwas ganz Besonderes und Wertvolles darzustellen. Die Trauer und Einsamkeit des lyrischen Ichs werden verstärkt durch den starken Kontrast zum Freud und der Farbenpracht der vergangenen Zeiten.

Insgesamt kann „Waldeinsamkeit“ als eine Reflexion über den Verlust der Jugend und Unschuld interpretiert werden. Der Wald und seine Bewohner stehen symbolisch für eine Welt der Unschuld und Verbundenheit, die durch das Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen verloren geht. Die melancholischen Bilder und metaphernreichen Beschreibungen unterstreichen die tiefe Traurigkeit des lyrischen Ichs über den verlorenen Zustand der inneren Freiheit und Verbundenheit mit der Natur.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Waldeinsamkeit“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Heinrich Heine. Im Jahr 1797 wurde Heine in Düsseldorf geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1851 zurück. Hamburg ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Bei Heine handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 931 Wörter. Es baut sich aus 39 Strophen auf und besteht aus 156 Versen. Weitere Werke des Dichters Heinrich Heine sind „Allnächtlich im Traume seh’ ich dich“, „Almansor“ und „Als ich, auf der Reise, zufällig“. Zum Autor des Gedichtes „Waldeinsamkeit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 535 Gedichte veröffentlicht.

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