Vor-Ostern von Rainer Maria Rilke

Neapel

Morgen wird in diesen tiefgekerbten
Gassen, die sich durch getürmtes Wohnen
unten dunkel nach dem Hafen drängen,
hell das Gold der Prozessionen rollen;
statt der Fetzen werden die ererbten
Bettbezüge, welche wehen wollen,
von den immer höheren Balkonen
(wie in Fließendem gespiegelt) hängen.
 
Aber heute hämmert an den Klopfern
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jeden Augenblick ein voll Bepackter,
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und sie schleppen immer neue Käufe;
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dennoch stehen strotzend noch die Stände.
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An der Ecke zeigt ein aufgehackter
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Ochse seine frischen Innenwände,
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und in Fähnchen enden alle Läufe.
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Und ein Vorrat wie von tausend Opfern
 
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drängt auf Bänken, hängt sich rings um Pflöcke,
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zwängt sich, wölbt sich, wälzt sich aus dem Dämmer
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aller Türen, und vor dem Gegähne
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der Melonen strecken sich die Brote.
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Voller Gier und Handlung ist das Tote;
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doch viel stiller sind die jungen Hähne
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und die abgehängten Ziegenböcke
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und am allerleisesten die Lämmer,
 
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die die Knaben um die Schultern nehmen
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und die willig von den Schritten nicken;
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während in der Mauer der verglasten
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spanischen Madonna die Agraffe
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und das Silber in den Diademen
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von dem Lichter-Vorgefühl beglänzter
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schimmert. Aber drüber in dem Fenster
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zeigt sich blickverschwenderisch ein Affe
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und führt rasch in einer angemaßten
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Haltung Gesten aus, die sich nicht schicken.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „Vor-Ostern“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
34
Anzahl Wörter
199
Entstehungsjahr
1918
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Vor-Ostern“ wurde vom böhmisch-österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke verfasst. Rilke gehört zu den bedeutendsten Lyrikern der literarischen Moderne, die zwischen dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einzuordnen ist.

Beim ersten Lesen fällt die detailreiche Beschreibung des städtischen Treibens auf. Der textliche Ablauf folgt einer chronologischen Ordnung. In einfachen Worten gesagt, beschreibt das lyrische Ich die Beobachtungen und Eindrücke der Stadt und Menschen vor Ostern. Dabei nimmt das Gedicht den Leser mit auf einen Streifzug durch geschäftige Gassen, vorbei an vollen Marktständen, hin zur bewegenden Szene von Kindern, die Lämmer umhertragen.

Entsprechend dem Realismus seiner Zeit, zeigt Rilke ein Bild der sinnlichen Wahrnehmung. Mithilfe von adjektivreichen Beschreibungen und ausführlichen Ausdrücken entfaltet Rilke sich mit einer vollmundigen Sprache und einer lebhaften Bildhaftigkeit. Syntaktisch ist das Gedicht in normaler Prosa geschrieben, zeichnet sich jedoch durch einen beachtenswerten Rhythmus (viele geschachtelte Nebensätze und Einschübe), eine Vielzahl an Alliterationen und die Verwendung ungewöhnlicher Metaphern aus.

Die Form des Gedichts besteht aus vier Strophen, wobei die letzten beiden jeweils aus acht und zehn Versen bestehen. Dies erzeugt eine rhythmische und melodische Wirkung. Die Reimstruktur ist frei, was typisch für Rilkes Schreibstil und die Moderne ist.

Das Gedicht ist ein Beispiel für Rilkes Fähigkeit, tiefgründige und eindringliche Ausblicke auf das menschliche Leben zu ziehen. Es zeigt sein feines Gespür für die Komplexitäten des urbanen Lebens und die Stärke menschlicher Gefühle und Beziehungen. Es zeugt von einer starken Sinneswahrnehmung und einer ausgeprägten Wahrnehmung der äußerlichen Welt und deren Vergänglichkeit. Mithilfe der intensiven und bildlichen Sprache gelingt es Rilke, ein umfassendes und bewegendes Porträt des vorösterlichen Treibens zu zeichnen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Vor-Ostern“ ist Rainer Maria Rilke. Rilke wurde im Jahr 1875 in Prag geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1918. Erschienen ist der Text in Leipzig. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 199 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 34 Versen. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Abend“, „Abend“ und „Abend“. Zum Autor des Gedichtes „Vor-Ostern“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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