Vor einem Springbrunnen von Karl Kraus

Wie doch die Kraft das Wasser hebt!
Es steigt und schwindet, schwillt und schwebt,
es steht im Strahl, es kommt und fällt
in diese nasse Gotteswelt,
 
die zwecklos wie am ersten Tag
bloß ihrer Lust genügen mag
und von dem holden Überfluß
an keine Pflicht verstatten muß,
 
nur jener einen Macht sich beugt,
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die sie erschuf — zum Himmel steigt
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ihr Dank, ein immer, früh und spät,
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unendlich rauschendes Gebet.
 
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Das rauscht und raunt, das rinnt und rennt
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im daseinsseligen Element;
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es fällt empor und steigt herab —
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kalt ist die Sonne, heiß das Grab.
 
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Und da es lebt, indem es stirbt,
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das Licht noch um das Wasser wirbt:
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Der Geist, dem solche Lust gefiel,
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dankt ihr ein Regenbogenspiel!
 
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Ob auch die Schale überfließt,
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ob Alles sich in nichts ergießt:
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der Geist, der es besieht, gewinnt,
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und ob auch Lust und Zeit verrinnt.
 
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Und nichts besteht und Alles bleibt,
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dem heiligen Geiste einverleibt,
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der nah dem Ursprung, treu und echt
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fortlebt dem heiligen Geschlecht.
 
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Der Brunnen rauscht, nur ihm vertraut
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vom Jauchzen bis zum Klagelaut,
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dem ewigen Ton, der ihm nur sagt,
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daß hier die Lust die Welt beklagt,
 
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die ihre Lust zum Zweck verdarb,
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bis alles Licht des Lebens starb;
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die sich die eigene Liebe stahl
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und sich bestraft mit Scham und Qual.
 
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Noch fließt ein Quell, noch flammt ein Licht,
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noch streben beide zum Gedicht,
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noch steigt die Sehnsucht hoch empor,
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noch öffnet sich ein Himmelstor —
 
41 
noch wär' ich auf dem Regenbogen
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beinah mit dir dort eingezogen,
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daß nie verrinne Lust und Zeit.
44 
O schöne Überflüssigkeit!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.1 KB)

Details zum Gedicht „Vor einem Springbrunnen“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
256
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Geicht stammt von Karl Kraus, einem österreichischen Schriftsteller, Satiriker und Kritiker, der von 1874 bis 1936 lebte. Da Kraus hauptsächlich zur Zeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts schrieb, kann das Gedicht in den Kontext dieser Zeit eingebettet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts zeigt eine gelungene Verschmelzung zwischen Natur und Spiritualität. Kraus verwendet den Springbrunnen als zentrales Motiv, um über die transzendentalen Themen des Lebens, der Schönheit und der Vergänglichkeit zu meditieren.

Kraus beschreibt die kontinuierliche Bewegung des Wassers im Brunnen, seinen ständigen Auf- und Abstieg, als Symbol für das ewige Leben und den immer wiederkehrenden Kreislauf des Wassers. Er betont die „zwecklose“ Existenz des Wassers, das nur seiner eigenen Freude und Lust nachgeht, ohne irgendeiner Pflicht nachkommen zu müssen. Obwohl es letztendlich nur der Schwerkraft gehorcht, hebt er die Spiritualität dieses Elements hervor, indem er es als „unendliches, rauschendes Gebet“ dargestellt.

Kraus gebraucht eine reichhaltige, poetische Sprache, um die Bewegung und Emotionen des Wassers zu beschreiben. Er schafft eine Reihe spielerischer Gegensätze, wie 'kalt ist die Sonne, heiß das Grab,' um die universellen extreme Lebens gegeneinanderzustellen. Er spricht davon, dass das Wasser „lebt, während es stirbt“, eine weitere Darstellung des Lebenszyklus, in dem Tod und Leben untrennbar miteinander verbunden sind.

Die spiralförmige Bewegung der Strophen, von oben nach unten und wieder zurück, spiegelt die konstante Bewegung des Wassers und das fortlaufende Leben wider. Das Gedicht strotzt vor sinnlichen Wahrnehmungen - das Rauschen, das Fließen und Jauchzen des Wassers. Die Verwendung von Alliterationen und Assonanzen trägt zur Musikalität des Gedichts bei.

Insgesamt wirkt das Gedicht sehr kontemplativ, es betrachtet die ästhetischen und tiefgründigeren Aspekte der physischen Welt, um darin die tief verankerte Spiritualität zu erkennen. Der Ausdruck „O schöne Überflüssigkeit“ im letzten Vers fasst die Freude an der Schönheit der Natur und an ihrer scheinbaren Zwecklosigkeit, die doch mit tiefem Sinn aufgeladen ist, gut zusammen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Vor einem Springbrunnen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Kraus. Kraus wurde im Jahr 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1920 entstanden. Erschienen ist der Text in München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zuordnen. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 256 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 11 Strophen. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „Abschied und Wiederkehr“, „Alle Vögel sind schon da“ und „Als Bobby starb“. Zum Autor des Gedichtes „Vor einem Springbrunnen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 61 Gedichte vor.

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