Vor dem Zuchthause von Otto Ernst
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Ein düst’rer Steinkoloß ragt in die Schatten |
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Der Nacht hinauf. Die grauen Wände starren |
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Gespensterhaft empor, und sie umflattert, |
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Aufzuckend hier und da, ein fahler Schimmer |
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Der Gaslaterne, die im Hofe brennt |
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Und deren Glas von Sturm und Regen klirrt. |
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Auf harten Steinen gellt der Tritt der Wache; |
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Von Eisengittern starren tote Fenster – |
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Ein Zuchthaus. – |
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Ein scheußlich Ungeheuer, brütet es |
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In dumpfer Finsternis und haucht Verdammnis. |
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In später, dunkler Nacht schreit’ ich vorüber |
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Einsam und stumm. Doch tief geheimes Grauen |
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Durchfröstelt mein Gehirn. – Ein öder Friedhof |
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Ist gegen diese stille Menschenwohnung |
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Ein lächelnd schöner Paradiesesgarten, |
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Ist eine Stätte süßer Lust, verglichen |
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Mit diesem Grabe der Lebendigen. – |
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Wir schreiten leichten Fußes dran vorüber, |
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Behaglich eingehüllt in unsre Mäntel |
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Und in den warmen Frieden unsrer Tugend. |
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Wir wandeln durch den hellen Sommertag |
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Und unterm Sternenglanz der Winternächte – |
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Und über unser Antlitz fliegt kein Schatten. |
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Wir drehen uns im kerzenhellen Saale |
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Zum lust’gen Schall der Geigen und Trompeten, |
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Wir schlürfen lachend aus kristall’nen Bechern |
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Den roten Wein, daß er das Hirn durchglute |
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Mit holden, wundersamen Phantasien – |
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Und über unser Antlitz fliegt kein Schatten. |
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Wir wärmen uns am stillen Herd des Hauses |
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Und ziehen an die Brust das schöne Haupt |
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Des friedlich-sanften Weibes und der Kinder |
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Vom Jugendsonnenglück umstrahlte Häupter – |
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Und über unser Antlitz zieht kein Schatten. |
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Wer aber diesem steinernen Gespenst |
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In sturmzerriss’ner Nacht vorüberschreitet, |
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Dem bohrt sich ein Gedanke tief ins Hirn, |
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Und in das Ohr raunt ihm ein Unsichtbarer: |
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„Sieh diese Stätte schuldbeladnen Elends |
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Und überschlag’ den Wert der eignen Tugend! |
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Wer fiel von diesen, deren Klageruf |
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An unbarmherzig kalte Mauern gellt – |
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Wer fiel in Schande, weil du mitleidlos |
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An seinem Jammer einst vorübergingst, |
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Als er noch gut war, doch vom Glück verlassen? |
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Wer fiel in Schande, weil du ihn verkannt? |
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Wer fiel in Schande, weil du seiner Jugend |
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In frevlem Leichtsinn eitle Lehren gabst, |
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Die abwärts führten, statt hinauf zum Lichte? |
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Wer fiel in Schande, weil du lässig warst, |
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Zum Guten ihn zu führen, seine Seele |
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Mit reinem Himmelslichte zu erfüllen, |
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Weil du in Faulheit deines eignen Wohlseins |
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Behaglich nur gewartet und sein Herz |
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Dalag, ein toter Acker, nur bedeckt |
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Vom Herbstesnebel eines öden Daseins? |
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O ihr, ihr Glücklich-Tugendsamen, Reinen! |
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Klebt euer Schuh, wenn er zum Tanze hüpft, |
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Nicht fest zuweilen an dem glatten Boden |
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Vom Blute eines Mords? – Dringt nicht zuweilen |
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Durch alle Wohlgerüche eurer Gärten, |
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Durch eurer Kammern liebliches Arom |
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Der scharfe Pesthauch einer eklen Sünde? – – |
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Die ihr das Haupt so frei zum Himmel hebt, |
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Vergeßt mir nicht in eurem guten Herzen, |
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Daß hinter diesen grauen Kerkermauern |
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Ein redlich Teil von eurer Sünde wohnt, |
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Und laßt in eurem Innern widerhallen |
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Den wilden Schmerzensschrei der hier Begrabnen, |
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An deren Fuß die schwere Kette klirrt |
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Und die verdammt sind – auch um eure Schuld!“ – |
Details zum Gedicht „Vor dem Zuchthause“
Otto Ernst
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72
457
1907
Moderne
Gedicht-Analyse
Dieses Gedicht mit dem Titel „Vor dem Zuchthause“ wurde von Otto Ernst geschrieben, einem deutschen Schriftsteller, der von 1862 bis 1926 lebte. Diese zeitliche Einordnung stellt das Gedicht in die Epoche des Naturalismus. Schon beim ersten Lesen ergibt sich der Eindruck einer düsteren Stimmung durch die finstere Beschreibung des Zuchthauses als Ort des Elends und Schreckens.
Das lyrische Ich wandelt in den dunklen Stunden vor dem Zuchthaus und wird von einem Grauen ergriffen, welches alles andere, selbst einen Friedhof, im Vergleich wie ein idyllischer Garten wirken lässt. Nach diesem ersten skeptischen Blick auf das Zuchthaus reflektiert das lyrische Ich über den Alltag der Menschen außerhalb dieser Mauern, der von Freude, Frieden und vor allem Unbekümmertheit gekennzeichnet scheint. In einem starken Kontrast zu der Dunkelheit des Zuchthauses wird das Leben außerhalb als ein Tanz im hellen Saal, unbeschwertes Weintrinken und häusliche Wärme dargestellt.
Doch dieser scheinbar sorglose Alltag wird zunehmend hinterfragt und in Verbindung mit dem Leid der Insassen des Zuchthauses gesetzt. Das lyrische Ich spricht direkt die glücklichen, tugendsamen und reinen Menschen an und warnt sie, dass ihr Glück zumindest zum Teil auf dem Elend anderer basiert, und fragt, ob sie an dem Leid der Insassen nicht irgendwie mitschuldig sein könnten, durch ihre Fahrlässigkeit, ihr Unverständnis oder ihre mangelnde Bemühung, anderen zu helfen. Die abschließende Aufforderung lautet, sich dessen bewusst zu sein und den Schrei der Insassen zu hören.
Das Gedicht lässt die Gegenüberstellung des wohlbehüteten Lebens außerhalb des Zuchthauses und des elenden Daseins innerhalb der Mauern aufkommen. Die Form des Gedichts ist durch zwei längere Strophen und eine kürzere abschließende Strophe gekennzeichnet. Dabei hat die erste Strophe 9 Verse, die zweite 55 und die dritte 8 Verse, was insgesamt 72 Verse ergibt. Der sehr dichte Rhythmus und die teils gereimten Verse schaffen eine beklemmende Atmosphäre und unterstützen die düstere Darstellung des Ortes und seine grauenvolle Aura, die das lyrische Ich empfindet.
Die Sprache des Gedichts ist geprägt von starken Kontrasten zwischen Licht und Dunkelheit, Freude und Elend, Wärme und Kälte. Es verwendet bildhafte Vergleiche und Metaphern, um die Gegensätze zwischen Glück und Unglück, Tugend und Schande herauszustellen. Es steckt voller Anspielungen auf Tod, Sünde und Schuld und beinhaltet mehrere direkte Adressen an den Leser, was einen eindringlichen Appellcharakter erzeugt. Es regt zum Nachdenken an und fordert uns auf, unsere eigenen Handlungen und ihre Auswirkungen auf andere zu hinterfragen.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Vor dem Zuchthause“ des Autors Otto Ernst. Geboren wurde Ernst im Jahr 1862 in Ottensen bei Hamburg. 1907 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Die Richtigkeit der Epoche sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 72 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 457 Worte. Weitere Werke des Dichters Otto Ernst sind „Auflösung“, „Aus einer Nacht“ und „Ausflug“. Zum Autor des Gedichtes „Vor dem Zuchthause“ haben wir auf abi-pur.de weitere 64 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Otto Ernst sind auf abi-pur.de 64 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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