Vor Tag von Hugo von Hofmannsthal

Nun liegt und zuckt am fahlen Himmelsrand
In sich zusammgesunken das Gewitter.
Nun denkt der Kranke: »Tag! jetzt werd ich schlafen!«
Und drückt die heißen Lider zu. Nun streckt
Die junge Kuh im Stall die starken Nüstern
Nach kühlem Frühduft. Nun im stummen Wald
Hebt der Landstreicher ungewaschen sich
Aus weichem Bett vorjährigen Laubes auf
Und wirft mit frecher Hand den nächsten Stein
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Nach einer Taube, die schlaftrunken fliegt,
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Und graust sich selber, wie der Stein so dumpf
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Und schwer zur Erde fällt. Nun rennt das Wasser,
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Als wollte es der Nacht, der fortgeschlichnen, nach
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Ins Dunkel stürzen, unteilnehmend, wild
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Und kalten Hauches hin, indessen droben
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Der Heiland und die Mutter leise, leise
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Sich unterreden auf dem Brücklein: leise,
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Und doch ist ihre kleine Rede ewig
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Und unzerstörbar wie die Sterne droben.
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Er trägt sein Kreuz und sagt nur: »Meine Mutter!«
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Und sieht sie an, und: »Ach, mein lieber Sohn!«
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Sagt sie. – Nun hat der Himmel mit der Erde
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Ein stumm beklemmend Zwiegespräch. Dann geht
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Ein Schauer durch den schweren, alten Leib:
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Sie rüstet sich, den neuen Tag zu leben.
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Nun steigt das geisterhafte Frühlicht. Nun
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Schleicht einer ohne Schuh von einem Frauenbett,
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Läuft wie ein Schatten, klettert wie ein Dieb
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Durchs Fenster in sein eigenes Zimmer, sieht
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Sich im Wandspiegel und hat plötzlich Angst
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Vor diesem blassen, übernächtigen Fremden,
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Als hätte dieser selbe heute nacht
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Den guten Knaben, der er war, ermordet
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Und käme jetzt, die Hände sich zu waschen
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Im Krüglein seines Opfers wie zum Hohn,
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Und darum sei der Himmel so beklommen
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Und alles in der Luft so sonderbar.
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Nun geht die Stalltür. Und nun ist auch Tag.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Vor Tag“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
38
Anzahl Wörter
271
Entstehungsjahr
1907
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Vor Tag“ ist von dem österreichischen Autor Hugo von Hofmannsthal, welcher von 1874 bis 1929 lebte. Er zählt zu den bekanntesten Vertretern der literarischen Strömung des symbolistischen Impressionismus und der Wiener Moderne.

Betrachtet man zunächst den ersten Eindruck des Gedichts, spürt man eine melancholisch-trübe, aber auch friedvolle Atmosphäre. Es entsteht ein Bild des frühen Morgens, des Übergangs von Nacht zu Tag und des Aufwachens der Natur sowie der Menschen.

Inhaltlich wird der Morgen aus verschiedenen Perspektiven dargestellt, was auch wiederholt wird durch „Nun“. Unter anderem erwacht ein kranker Mensch, streckt eine Kuh ihre Nüstern aus und beobachtet ein Landstreicher eine Taube. Eindrücklich wirkt auch das Bild des jungen Mannes, der vor seinem Spiegelbild erschreckt und sich schuldig fühlt. Diese Beobachtungen werden durch die Darstellung des Himmels und der Erde ergänzt, welche lyrisch in den neuen Tag eintauchen.

Das lyrische Ich des Gedichts scheint dabei die Rolle eines stillen Beobachters einzunehmen, es betrachtet und beschreibt die Erscheinungen, ohne aktiv ins Geschehen einzugreifen. Es versucht die Stimmung und die Atmosphäre mit poetischen Mitteln einzufangen, es möchte dem Tag seinen zauberhaften, fast magischen Charakter zugestehen.

Formal handelt es sich bei „Vor Tag“ um ein langes Gedicht, das aus 38 Versen besteht und Strophe für Strophe angeordnet ist. Die Sprache ist bildhaft und metaphorisch, zugleich aber klar und schlicht. Hofmannsthal benutzt vergleichsweise einfache Worte, um komplexe Bedeutungen zu vermitteln. Diverse Motive wie die Kuh oder der Landstreicher sind Beispiele für die symbolhaften Bilder, die den Text prägen. Sie stehen vermutlich für verschiedene Lebensformen – das Vieh für die Natur, der Landstreicher für den Menschen am Rand der Gesellschaft – und betonen damit die universelle Dimension des Gedichts.

Das Gedicht kombiniert Realität und Symbolik, konkretes Beobachten und hintergründige Gedanken. In der geschäftigen Welt des Aufwachens wird auch eine spirituelle Dimension eröffnet, wenn Jesus und Maria ins Spiel kommen. „Vor Tag“ ist demnach ein lyrischer Text, der tiefe menschliche Empfindungen und Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste anspricht. Dabei wirkt er immer wieder auf eine alltägliche Szenerie, die sich zum Fenster zu etwas Großem, vielleicht Unbegreiflichem öffnet. Ein besonderer Reiz des Gedichts besteht in dieser Balance von Alltäglichkeit und Transzendenz.

Weitere Informationen

Hugo von Hofmannsthal ist der Autor des Gedichtes „Vor Tag“. Geboren wurde Hofmannsthal im Jahr 1874 in Wien. 1907 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Hofmannsthal ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 38 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 271 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Hugo von Hofmannsthal sind „Der Jüngling in der Landshaft“, „Der Kaiser von China spricht“ und „Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt“. Zum Autor des Gedichtes „Vor Tag“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 40 Gedichte vor.

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