Atlantis von Marie Eugenie Delle Grazie

Wie fremd im Sonnenwechsel dieser Tage
Ein heimlich Grau’n mir durch die Seele schleicht,
Und deines Schicksals schwermuthvolle Sage
Atlantis, nimmer aus dem Sinn mir weicht!
 
Seh’ ich im Abendgold die Klippen strahlen,
Wird mir das Aug’ von heißen Thränen schwer
Und zuckend spricht das Herz in tausend Qualen:
„Blick hin — du siehst sie so nicht wieder mehr!“
 
Nie wieder wird dir so der Himmel blauen,
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Nie wieder klingt so eigen dir die Luft,
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Und wirst du sie nach Jahren wiederschauen,
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Ein and’rer Klang wird’s sein, ein and’rer Duft!
 
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Befremdet wird dein Auge um sich spähen
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Und suchen, was es nicht mehr finden kann,
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Und durch das Herz wird dir ein Grauen gehen,
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Und lasten wird auf dir ein Zauberbann,
 
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Ein athemloses, tödliches Erschrecken,
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Wie’s uns vor Leichen faßt, die wir geliebt,
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Und nicht mehr rufen können, nicht mehr wecken,
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Weil uns kein Ton, kein Blick mehr Antwort giebt!
 
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Derselbe Reiz wird’s sein, der heut’ mir trunken
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Den Sinn berückt, dasselbe Abendroth,
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In meinem Innersten nur wird versunken
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Atlantis sein und was heut’ lebend - todt!
 
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Und wo ich einst gejauchzt, wird herbes Trauern
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Den Busen mir beklemmen, fürchterlich,
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Und wo ich einst geglüht, wird’s mich durchschauern
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Wie Grabesfrost – und wenden werd’ ich mich
 
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Und flieh’n .... wie doch im Wechsel dieser Tage
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Ein heimlich Grau’n mir durch die Seele schleicht
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und deines Schicksals schwermuthvolle Sage,
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Atlantis, nimmer aus dem Sinn mir weicht!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Atlantis“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
241
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das vorgestellte Gedicht stammt von der österreichischen Autorin Marie Eugenie Delle Grazie. Diese lebte von 1864 bis 1931, was die zeitliche Einordnung des literarischen Werks in die Epoche des Naturalismus und der beginnenden Moderne ermöglicht.

Das Gedicht „Atlantis“ erzeugt auf den ersten Leseeindruck eine melancholische und traurige Atmosphäre. Es eröffnet eine innere Welt des lyrischen Ichs, die von Sehnsucht und Abschiedsschmerz geprägt ist.

Inhaltlich beschreibt das lyrische Ich seine intensive Verbindung zu einem Ort, der metaphorisch als „Atlantis“ bezeichnet wird. Dieser Ort scheint für das lyrische Ich verloren zu sein und es empfindet im Kontext dieser Verlustes Schwermut und Grauen. Es ist die Trauer über den unwiederbringlichen Verlust, die das lyrische Ich mit jedem Gedanken an „Atlantis“ durchströmt und sie durchlebt in der Betrachtung der Natur - im Sonnenwechsel, im Abendgold, im Blau des Himmels und den Klängen der Luft - ihre eigene Traurigkeit und die Unmöglichkeit der Rückkehr.

Formell ist das Gedicht in acht Strophen mit jeweils vier Versen gegliedert. Es herrscht dabei kein durchgängiges Reimschema vor, es dominiert ein freier Vers. Die verwendete Sprache ist poetisch und bilderreich. Altertümliche Begriffe wie „Grau’n“ für Grauen, „Thränen“ für Tränen und „Zauberbann“ für Bannzauber rufen eine besondere Atmosphäre hervor, die den Text symbolreich und zugleich emotional intensiv macht.

Die Metapher „Atlantis“ steht hierbei für einen geliebten, aber verlorenen Ort, was dem Gedicht einen tiefen melancholischen Charakter verleiht. „Atlantis“ ist eine sagenumwobene, untergegangene Stadt, und passt somit ideal als Allegorie für das emotionsgeladene Thema des Verlustes.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Delle Grazie in „Atlantis“ den komplizierten Prozess der Trauer veranschaulicht. Sie zeigt auf sprachlich beeindruckende Weise, wie sie trotz der veränderten Außenwelt - symbolisiert durch den Sonnenwechsel, die Klippen im Abendgold, den veränderten Himmel etc. - innerlich stagniert und in ihrer Verlusttrauer gefangen bleibt.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Atlantis“ ist Marie Eugenie Delle Grazie. Die Autorin Marie Eugenie Delle Grazie wurde 1864 in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1892. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Delle Grazie ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 241 Worte. Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für das Gedicht „Abend (Delle Grazie)“, „Abend wird es“ und „Abendsonnenschein“. Zur Autorin des Gedichtes „Atlantis“ haben wir auf abi-pur.de weitere 71 Gedichte veröffentlicht.

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