Vision von Erich Mühsam

Vor dem Rot des Tags, der Abschied nimmt,
wälzt sich wollig wolkig grauer Rauch,
welcher eines nahen Schlotes Bauch
schwer erklimmt.
 
Und der Rauch formt vor dem roten Schein
weiche Arabesken und Figuren.
Wunderlich zerfließen die Konturen
querluftein.
 
Was die Menschenhand am Ofen drunten
10 
um des Brotes willen schafft und flicht,
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zieht vorbei im abendhimmelsbunten
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Schemenlicht.
 
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Hämmer fallen auf geglühten Stahl.
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Flammen schlagen, und der Motor brüllt,
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wo man schwere Eisenmäntel füllt
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ohne Zahl.
 
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Traurig bleibt der Wandrer stehn und sieht,
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wie das finstre Werk in grauen, langen,
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schlimmen Wegs bewußten Wolkenschlangen
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nachtwärts zieht.
 
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Giftig spaltet sich die Schlangenhaut.
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Schwerter züngeln und Kanonenmünder
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runden sich und bersten, Hundertpfünder, –
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ohne Laut.
 
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Pferdeleiber winden sich, und Hände
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greifen langgefingert jäh ins Leere.
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Durch die Reste wüster Waldgelände
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stelzen Heere.
 
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Steil und spitzig stoßen Bajonette
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auf und nieder. Türme steigen, kippen.
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Tanzend, wiegend schlingt sich eine Kette
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aus Gerippen.
 
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Fäuste wachsen, krallen sich um Kehlen.
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Dürre Körper sinken unter Hieben.
35 
Vor dem roten Schein im Rauch zerstieben
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Menschenseelen.
 
37 
Nacht verschluckt die nebligen Gebilde.
38 
Ruhlos walkt der Schlot der Waffenschmiede...
39 
Wann wird Tag? O, wann erwacht der milde
40 
Weltenfriede?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Vision“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
185
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Vision“ wurde von Erich Mühsam verfasst. Mühsam war ein deutscher Schriftsteller und Anarchist, der von 1878 bis 1934 lebte. Die zeitliche Einordnung lässt sich, ohne direkte Datumsangabe, vor dem Kontext von Mühsams Leben und seiner politischen Überzeugungen ungefähr während der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland um 1920/1930 herum festlegen.

Im ersten Eindruck ist die Atmosphäre des Gedichts bedrückend und düster. Es handelt von der rauchigen Szene einer industriellen Landschaft, die während eines Sonnenuntergangs beobachtet wird. Der aufsteigende Rauch formt unterschiedliche Gestalten und Bilder, die das lyrische Ich auf eine metaphorische Reise durch arbeitende Menschen, industrielle und militärische Aktivitäten, Gewalt und Krieg führen. Die Atmosphäre spiegelt eine flüchtige und doch lähmende Version einer apokalyptischen Vision wider.

Die erste Strophe beschreibt den abendlichen Himmel und meldet den Beginn der Vision im rauchigen Dunst eines nahen Fabrikschornsteins. Die folgenden Strophen benutzen die Formen im Rauch, um die Arbeit der Menschen, die hergestellte Eisenmäntel und das giftige Endprodukt zu illustrieren, die sich in Schlangen umwandelt - ein Symbol für Kriegswaffen. Der Text zeigt sich kritisch gegenüber der Industrie und Militarismus und endet mit einem Appell an den Weltfrieden.

Vom Aufbau her ist „Vision“ ein streng formales und streng strukturiertes Gedicht mit zehn Vierzeiler-Strophen. Jeder Vers hat vier Hebungen und die Reime folgen einem regelmäßigen abcb-Schema. Die Sprache ist bewusst bildreich und metaphorisch und nutzt Alliterationen und Assonanzen, um die apokalyptische Stimmung zu verstärken.

Die traurige, fast verzweifelte Atmosphäre des Gedichts spiegelt den Wunsch des lyrischen Ichs - die vielleicht Mühsams eigene Wünsche repräsentieren - wider, dass die Menschheit den Pfad zur Zerstörung durch Industrie und Krieg abwenden und den Weltfrieden anstreben sollte. Dabei thematisiert es Themen wie Krieg, Tod und Umweltverschmutzung auf eine phantasmagorische und anklagende Weise.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Vision“ des Autors Erich Mühsam. Geboren wurde Mühsam im Jahr 1878 in Berlin. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1920 zurück. Erschienen ist der Text in München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Expressionismus zuordnen. Mühsam ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 185 Worte. Der Dichter Erich Mühsam ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Beispiel lebt“, „Das Volk der Denker“ und „Das Neue Deutschland“. Zum Autor des Gedichtes „Vision“ haben wir auf abi-pur.de weitere 57 Gedichte veröffentlicht.

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