Vigilien von Rainer Maria Rilke

Die falben Felder schlafen schon,
mein Herz nur wacht allein;
der Abend refft im Hafen schon
sein rotes Segel ein.
 
Traumselige Vigilie!
Jetzt wallt die Nacht durchs Land;
der Mond, die weiße Lilie,
blüht auf in ihrer Hand.
 
II
 
10 
Am offnen Stubenfenster lehn ich
11 
und träume in die Nacht hinauf;
12 
das Mondlicht windet silbersträhnig
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sich um den schwarzen Kirchturmknauf.
 
14 
Sehn wenig Welten aus den Fernen
15 
auch durch den engen Hof ins Haus, –
16 
es füllte Licht von zehen Sternen
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ein ganzes, dunkles Leben aus.
 
18 
III
 
19 
Horch, der Schritt der Nacht erstirbt
20 
in der weiten Stille;
21 
meine Schreibtischlampe zirpt
22 
leis wie eine Grille.
 
23 
Goldig auf dem Bücherstand
24 
glühn der Bände Rücken:
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zu der Fahrt ins Feenland
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Pfeiler für die Brücken.
 
27 
IV
 
28 
Sie hat, halb Kind, einst eine Nacht
29 
beim toten Mütterlein verbracht
30 
und hat geweint und hat gewacht; –
31 
dann gingen Jahre, Jahre sacht:
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nie hat sie jener Nacht gedacht.
 
33 
Und dann kam eine andre Nacht.
34 
Da hat von Glut und Sünd entfacht
35 
die rote Lippe Lust gelacht,
36 
doch plötzlich – wie durch höhre Macht
37 
dacht sie der Nacht der Leichenwacht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Vigilien“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
37
Anzahl Wörter
177
Entstehungsjahr
nach 1891
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht „Vigilien“ stammt von Rainer Maria Rilke, einem prominenten Vertreter der lyrischen Moderne im deutschen Sprachraum um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Auf den ersten Blick hinterlässt das Gedicht einen eher melancholischen, aber auch nachdenklichen Eindruck. Es scheint, als betrachte das lyrische Ich die Welt in einer stillen Nacht und reflektiere dabei tiefgreifende Erfahrungen und Gefühle.

Inhaltlich geht das Gedicht hauptsächlich um die Gedanken und Emotionen des lyrischen Ichs in der Stille der Nacht. In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich, wie es alleine wacht, während die Natur schon zur Ruhe gekommen ist. Die Nacht wird dabei als eine weiße Lilie dargestellt, die in einer Traumwelt blüht.

In der zweiten Strophe lehnt das lyrische Ich am offenen Fenster und träumt in die Nacht hinaus. Es wird eine idyllische Szenerie geschildert, die von Mondlicht und dem schwarzen Kirchturmknauf dominiert wird. Während es von hier aus in die Ferne blickt, stellt es fest, dass es nur etwas Licht von einigen Sternen benötigt, um sein eigenes, dunkles Leben auszufüllen.

In der dritten Strophe wird die Stille der Nacht eindrücklich dargestellt. Das lyrische Ich ist alleine mit seiner Schreibtischlampe, die wie eine Grille zirpt. Im Vergleich dazu werden die Bücher auf dem Bücherstand als Brücken in das Feenland dargestellt.

In den letzten beiden Strophen wird eine deutliche Wendung vorgenommen. Das lyrische Ich erinnert sich an einen früheren Moment, in dem es die gesamte Nacht wach geblieben ist - neben dem leblosen Körper seiner Mutter. Nach vielen Jahren, gedachte es jener Nacht nie, bis es plötzlich während einer feurigen und leidenschaftlichen Nacht an diese erinnert wird.

Der Aufbau des Gedichts folgt keinem Reimschema. Es besteht aus verschiedenen metrischen Formen und der Verslänge variiert. Auffallend ist, dass Rilke bestimmte Verse nur als römische Ziffern gestaltet, was möglicherweise Abschnitte oder besondere Momente innerhalb des Gedichts markiert.

Die Sprache des Gedichts ist recht bildhaft und metaphorisch, was typisch für Rilkes Dichtung ist. Er verwendet eine gehobene, poetische Sprache und schafft es gleichzeitig, alltägliche Motive wie das offene Fenster, den Kirchturmknauf, die Schreibtischlampe und die Bücher in eine poetische und zugleich tiefgründige Sprache zu kleiden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Vigilien“ ein Gedicht ist, das die Tiefe menschlicher Erfahrungen und Emotionen in der Stille der Nacht auslotet und dabei die Kluft zwischen Schönheit und Traurigkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen Leben und Tod überbrückt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Vigilien“ des Autors Rainer Maria Rilke. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. In der Zeit von 1891 bis 1926 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Frankfurt am Main. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bei Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 37 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 177 Worte. Der Dichter Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Adam“, „Advent“ und „Allerseelen“. Zum Autor des Gedichtes „Vigilien“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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