Verlöbnis von Karl Kraus

Unendliche, laß dich unsterblich ermessen
und es sei mir dein Fühlen bewußt.
Meines entschwand mir zu höllischer Lust.
Denn der Gedanke bricht ins Vergessen.
 
Wie dein Gefühl auf steilenden Stufen
immer verweilend den Himmel erzielt —
wissend, hab’ ich es nachgefühlt,
und ich will es ins Ohr dir rufen!
 
Laß es mich denken, wie einer ermattet
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an deiner Kraft, in dein schwellendes All
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begehrte der irdische Einzelfall,
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der das ewige Licht beschattet.
 
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Und die zufriedene Gier läßt die Lüge
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dort zurück, wo die Lust verthan.
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Und er sah dein Gesicht nicht an,
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als sich dir heimlich verklärten die Züge.
 
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Ach, den Verlust am liebenden Leben
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hast du ihm, sehnende Nymphe, vertraut.
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Aber die Stunde hört nicht den Laut,
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wenn vom Leid die Äonen beben.
 
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Und seine Armut flieht von dem Feste,
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daß sie nicht an der Fülle vergeh’.
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Weibsein beruht in Wonne und Weh.
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Mann zu sein rettet er seine Reste.
 
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Fällt auch die heilige Welt zusammen
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in dem unseligen Unterschied —
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ich setze fort dein verlassenes Lied!
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Ich will entstehen aus deinen Flammen!
 
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Was immer dir fehle, von dir empfangend,
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schöpfend aus deinem lebendigen Quell,
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so wird dem Teufel der Himmel hell,
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immer doch deine Lust verlangend!
 
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Muß sich der Geist in dir versenken,
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reißt ihn aus der Höh’ keine irdische Macht.
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Verbuhlen wir so diese Lebensnacht!
36 
Unsterblich küssen, unendlich denken!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Verlöbnis“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
220
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das vorgestellte Gedicht mit dem Titel „Verlöbnis“ stammt von Karl Kraus, einem bedeutenden österreichischen Schriftsteller und Publizisten des Fin de Siècle. Kraus lebte von 1874 bis 1936, also ist das Gedicht aus der Übergangsphase vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Auf den ersten Blick fällt das komplexe und anspruchsvolle Vokabular auf, was auf das sprachlich hohes Niveau von Kraus hinweist. Der Titel „Verlöbnis“ verweist auf eine Art von Bindung oder Versprechen, dieses wird im Gedicht thematisch ausgeführt.

Inhaltlich wird im Gedicht eine intensive lyrische Interaktion zwischen zwei Entitäten ausgedrückt. Das lyrische Ich wendet sich an ein „Du“, das als unendlich und unsterblich beschrieben wird. Das lyrische Ich vermisst das Gefühl, das ihm einst bewusst war und jetzt in Vergessenheit gerät, fühlt sich dabei zu „höllischer Lust“ hingerissen.

In den weiteren Strophen versucht das lyrische Ich, das Unsterbliche und Unendliche dieses „Du‘s“ nachzuvollziehen und auszudrücken. Es gibt ein Streben nach dem Unendlichen, einen starken Drang, sich dieses „Du‘s“ bewusst zu werden. Dabei greift das lyrische Ich auf verschiedene Facetten menschlicher Erfahrung wie Lust, Liebe, Verlust und Schmerz zurück. Es humorisiert auch über Geschlechterrollen, indem es sich auf Weiblichkeit und Männlichkeit bezieht.

Das Gedicht folgt einem klaren formellen Muster: Jede Strophe besteht aus vier Versen, und es gibt insgesamt neun Strophen. Diese Form verleiht dem Gedicht Struktur und Rhythmus auch wenn kein festes Reimschema erkennbar ist.

In Bezug auf die Sprache fallen sofort die vielschichtigen Bilder und Metaphorik auf. Es wird eine quasi-mystische Sprache verwendet, die sich auf große, abstrakte Konzepte wie Unendlichkeit, Unsterblichkeit, Ewigkeit und Universum bezieht, die Suche nach Erkenntnissen und die Notwendigkeit eines tieferen Verständnisses.

Insgesamt ist das Gedicht „Verlöbnis“ ein dichtes, inhaltlich und sprachlich anspruchsvolles Werk, das eine Reihe von Themen behandelt, einschließlich menschlicher Gefühle, Sehnsucht nach dem Unbekannten, die Macht der Liebe und Geschlechterdynamiken. Kraus' Fähigkeit, eine komplexe Bildsprache zu schaffen und abstrakte Konzepte in poetischer Form darzustellen, macht das Gedicht zu einem eindrucksvollen Beispiel für die Dichtung des Fin de Siècle.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Verlöbnis“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Karl Kraus. Kraus wurde im Jahr 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1920. München ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 220 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 9 Strophen. Weitere Werke des Dichters Karl Kraus sind „An einen alten Lehrer“, „Auferstehung“ und „Aus jungen Tagen“. Zum Autor des Gedichtes „Verlöbnis“ haben wir auf abi-pur.de weitere 61 Gedichte veröffentlicht.

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