Venus Mea von Richard Dehmel

Der Himmel gähnt, der Tag ist auferstanden,
ich habe nun genug geschaut nach Osten;
die Seele will in ihren Abendlanden
Vollendung kosten.
An dem Thor des neuen Evagartens
steht ein knöchernes Gerippe,
mit dem Ausdruck des Erwartens,
aber nicht mehr in der Faust die Hippe.
Sein Scheitel schimmert; eine Pfauenfeder
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ragt aus der Rechten steil zum Himmelsrand,
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drin sonnt sich tausendfarbig, was ein Jeder
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war und empfand.
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In der Stunde einer neuen Frucht
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perlt ein Strahl aus diesem Spiegel,
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dann verglimmt die Wonnesucht,
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still empfängt der dunkle Keim sein Siegel.
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Schon dämmert Glanz; krystallne Ketten hängen
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klar her zu dir aus väterlichen Sphären.
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So sollst auch Du dich aus der Dämmrung drängen
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und dich verklären,
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Seele, bis dein starr Gehirn sich lichtet,
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wie die Sonne scheint durch Eis,
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und dir deine Brunst beschwichtet
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und im Traum selbst deinen Willen weiß.
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Noch flimmert’s nur; tief lockt die alte Nacht
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mit ihrer Schaar verworrner Muttergluten.
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Doch du wirst wiederkehren! du bist Macht!
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sieh, rings sind Fluten:
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wenn zwei Liebende zusammensinken,
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die du Einmal nur erleuchtet,
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und im Rausche blind ertrinken,
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wird die Frucht von Deinem Licht befeuchtet.
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So tagt es. Mit dem Ausdruck des Verächters
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sollst du dem alten Garten kalt entschreiten:
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dir weist die Pfauenfeder unsres Wächters
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Unsterblichkeiten.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Venus Mea“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
208
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Venus Mea“ wurde von Richard Dehmel geschrieben, der von 1863 bis 1920 lebte. Das deutet darauf hin, dass das Werk der Epoche des Naturalismus, Symbolismus oder der frühen Moderne entstammt.

Schon beim ersten Lesen wird deutlich, dass es sich um ein sehr philosophisches und metaphysisches Gedicht handelt. Dehmel verwendet hier stark symbolhafte Bilder und Sprache. Das Gedicht scheint eine spirituelle oder religiöse Erfahrung zu beschreiben, die sich im Laufe eines Tages abspielt, von der Dämmerung bis zum Morgengrauen.

Inhaltlich betrachtet, schildert das lyrische Ich die Tagesanbruch und die Transformation von einem geistigen Zustand in einen anderen. Es scheint, als ob das lyrische Ich von seiner sterblichen Existenz genug hat („Der Himmel gähnt, der Tag ist auferstanden, ich habe nun genug geschaut nach Osten“) und nun nach einem Zustand der Vollendung oder höheren geistigen Bewusstseinswachheit strebt („die Seele will in ihren Abendlanden Vollendung kosten“). Symbolisch wird diese Transformation durch ein knöchernes Gerippe dargestellt, das vor den Toren eines neuen Gartens steht, wahrscheinlich ein Hinweis auf den Garten Eden, einem Ort der Wiedergeburt und Verklärung.

In Bezug auf die Form ist das Gedicht in freie Verse geschrieben, was typisch für die Zeit der Jahrhundertwende ist, in der Dehmel tätig war. Der Dichter nutzt zudem zahlreiche metaphorische Beschreibungen und symbolische Bilder, um seine Vision zu kommunizieren.

Die Sprache des Gedichts ist sehr lyrisch und bildhaft. Begriffe wie „starr Gehirn“, „Knöchernes Gerippe“ und „verklärte Seele“ deuten auf Themen wie Tod, Wiedergeburt und spirituelle Erleuchtung hin. Der Gebrauch von Kontrasten wie Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, wach und traumhaft unterstreicht die Transformationserfahrung, die das lyrische Ich durchlebt.

Im Ganzen gesehen, handelt es sich bei dem Gedicht um eine mystische Reflexion über Tod, Wiedergeburt und spirituelle Transformation.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Venus Mea“ des Autors Richard Dehmel. Im Jahr 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. Der Erscheinungsort ist München. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Bei Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 208 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 36 Versen mit nur einer Strophe. Weitere Werke des Dichters Richard Dehmel sind „Ballade vom Volk“, „Bann“ und „Bastard“. Zum Autor des Gedichtes „Venus Mea“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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