Venus Bestia von Richard Dehmel

Ich und mein Freund, wir saßen einmal
in einem menschenheißen Weinlokal;
zwei Tisch weit neben uns saßen
ein Herr und eine Dame, offenbar
– den Ringen nach – ein jüngeres Ehepaar,
deren Blicke sich manchmal vergaßen.
Mein Freund sah weg, wir lächelten eigen,
wir schwiegen unser bestes Schweigen.
 
Der Gatte nahm jetzt die Speisekarte,
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den kleinen Finger gespreizt – dran saß
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ein Nagel, langgefeilt und leichenblaß,
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der spitz wie eine Kralle starrte;
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der Zeigefinger war stumpf beschnitten.
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Die Frau saß weich zurückgesunken;
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aus ihren Augenhöhlenschatten glühten
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wie zwei Kohlenfunken
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Blicke hinüber auf seine Finger,
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dunkle, glimmende Blicke hin.
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Ich weiß nicht, mir kam der Raubtierzwinger,
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der Zoologische Garten in Sinn;
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ja – die Tigerin!
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So lag sie neulich hinter dem Gitter,
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die ferne Gier im schwarzen Blick,
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im weichen Fell ein gelb Gezitter,
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und wartete brütend auf das braune Stück
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Fleisch, das draußen der Wärter brachte,
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das tote Fleisch – es roch so matt,
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nicht warm nach Blut – sie lag so satt;
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jetzt kam er, ihr purpurnes Auge lachte,
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es war doch Fleisch! hoch griff sie zu,
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die triefenden Kiefer kniff sie zu,
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nun lag sie drüber mit brünstigen Pranken,
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die Zunge gekrümmt, die Zähne stier,
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sie konnte nicht fressen vor röchelnder Gier,
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flackernd leckte der Schweif die Flanken,
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im Blick ein Grün von hohlem Hasse –
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wie dieser Tigerin zuckender Rachenschlund
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war mir das Auge der Frau da, und
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da sagte mein Freund: Du, das Weib hat Rasse!
 
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Jetzt hob der Gatte das Genick;
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Dem saß der gelbe Wolf im Blick.
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Zittrig über sein hartglatt Kinn
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strich sein Krallennagel hin,
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ein goldnes Münzenarmband hing
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ihm ums Handgelenk und machte kling;
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seine breitroten Lippen glühten
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durch den magern Schnurrbart wie Dornstrauchblüten,
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die Backen schmeckten ein Gericht,
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dann senkte sich wieder sein Gesicht.
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Ich sah eine lautlos stürzende Meute,
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mit kochenden Zungen, durch bleiche Nacht,
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steif die Ruten gesträubt, fern Schlittengeläute,
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die witternden Nüstern steil ins Weite,
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in keuchender Jagd,
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und jeder aus der schäumenden Masse
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würde, den heißen Hunger zu kühlen,
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blind, auch im Eignen Fleisch und Geschlechte wühlen –
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da bemerkte mein Freund: Du, auch der Kerl hat Rasse!
 
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Jetzt wurden sich die Beiden schlüssig,
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sie trafen sich mit ihren Augen;
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die schienen sich ineinander zu saugen,
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fast durstig und fast überdrüssig,
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ganz langsam. Und plötzlich stand mir klar
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gestern das große schwarze Schneckenpaar
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in dem nassen Fliegenpilz vor Augen,
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das Moderlaub im feuchten Park;
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ich sah die beiden schwarzen Schleime
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in dem weißen Fleische, dem giftigen Mark
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des roten Pilzes schmausen und saugen
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wie in einem Honigseime –
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und sah dort drüben den Gattenblick.
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Ich mußte, ich schob den Stuhl zurück:
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Komm! stieß ich mit dem Freunde an.
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Er wunderte sich: Warum denn, Mann?
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Komm, sagt’ich; bitte, thu mir die Liebe! –
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Wir zahlten. Wir traten auf die Straße,
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ins Wagengerassel, ins Menschengeschiebe,
78 
und immerfort hört’ich: Rasse, Rasse, Rasse ...
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.2 KB)

Details zum Gedicht „Venus Bestia“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
78
Anzahl Wörter
464
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Venus Bestia“ wurde von Richard Dehmel geschrieben, einem bedeutenden deutschen Dichter des Fin de Siècle, dessen Schaffenszeit in die zweite Hälfte des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts fällt. Dieses spezifische Gedicht entstand wahrscheinlich gegen Ende seines Lebens, also um 1920, in der Zeit des Expressionismus.

Auf den ersten Eindruck ist das Gedicht sehr bildhaft und symbolisch, voller intensiver, teils düsterer Metaphern und Vergleiche. Es erzählt die Beobachtung des lyrischen Ichs in einem Weinlokal, wo es ein Pärchen, auffällig durch dessen eigenartige Blicke, beobachtet.

Der Inhalt des Gedichtes ist durch die Beziehung des Paares bestimmt, die durch intensive, animalische Bilder dargestellt wird. Die Frau wird mit einer Raubkatze, speziell einer Tigerin verglichen, während der Mann den Vergleich mit einem Wolf erfährt. Beide zeichnen sich durch ihre Ausstrahlung, ihre 'Rasse', aus, was gleichzeitig zu erkennen gibt, dass ihre Beziehung stark vom Instinktiven, Unzivilisierten geprägt ist.

Der Ausdruck 'Rasse' wird dabei mehrfach wiederholt und scheint auf eine bestimmte Qualität oder Charaktereigenschaft hinzudeuten. Die sinnliche und animalische Metaphorik zeigt eine sehr intensive und zugleich gewalttätige Beziehung auf, die sich auch in der Art und Weise zeigt, wie die beiden miteinander umgehen - fast gleichgültig und doch von tiefer Leidenschaft und animalischer Anziehung geprägt.

In Bezug auf die Form und Sprache des Gedichts ist bemerkenswert, dass es sich nicht um eine traditionelle Gedichtform handelt. Es gibt keinen Reim oder ein fixes Metrum. Die Strophenlänge variiert stark, was möglicherweise auf das chaotische und unvorhersehbare Verhalten der beiden Protagonisten hinweist. Die Sprache ist reich an Metaphern und starken, bildhaften Beschreibungen. Dabei verwendet Dehmel eine Mischung aus alltäglicher und gehobener Sprache, was den Kontrast zwischen der menschlichen Gesellschaft und der tierischen Natur der beiden Protagonisten unterstreicht.

Zusammenfassend kann man sagen, dass „Venus Bestia“ ein intensives und komplexes Gedicht ist, das das animalische und instinktive Verhalten in menschlichen Beziehungen thematisiert und dabei eine dunkle, fast bedrohliche Atmosphäre schafft.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Venus Bestia“ des Autors Richard Dehmel. Im Jahr 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1893 entstanden. München ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Der Schriftsteller Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 78 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 464 Worte. Die Gedichte „Ballade vom Volk“, „Bann“ und „Bastard“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Venus Bestia“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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