Venus Anadyomene von Richard Dehmel

Das ist die alte Stimme wieder,
aus langen Träumen jung erwacht;
sie sang die allerersten Lieder,
trunken und schüchtern, – sie singt und lacht:
„Ueber dem grünen Roggenmeere
wiegte die Glut zwei Pfauenaugen,
blühend roch die brütende Leere;
tief im grünen Roggenmeere
lag ein Knabe mit blauen Augen.
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Das war, als du noch Fehle hattest,
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noch alte Furcht und fremde Scham,
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als du noch keine Seele hattest,
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die nur aus Deinem Blute kam.
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Aber du sahst die Falter leuchten,
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mit flackernden Flügeln bunt sich greifen;
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träumte dir von zwei dunkelfeuchten
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Augen, und die sahst du leuchten
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unter bunten, flatternden Schleifen.
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Das war die Zeit des Schaums der Säfte,
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die Aehren stäubten gelben Seim,
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vieltausendjährige Ueberkräfte
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erregten schwellend einen Keim;
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ahntest unterm andern Kleide
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andre nackte Glieder klopfen,
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deine Hände flackerten beide,
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in die einsam heiße Haide
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quoll ein erster Samentropfen.
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Das that die Sehnsucht dieser Erde,
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die opfernd um die Sonne schweift;
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sie sprach das allererste Werde, –
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beichte! die Sprache der Mannheit reift.“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25 KB)

Details zum Gedicht „Venus Anadyomene“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
31
Anzahl Wörter
162
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Venus Anadyomene“ wurde von Richard Dehmel geschrieben, der von 1863 bis 1920 lebte. Die Öffentlichkeit erhielt sein Werk während der Übergangszeit von Realismus zur Moderne.

Auf den ersten Blick stellt das Gedicht eine Reihe von lebendigen und bildhaften Szenarien da. Es beginnt mit der Erweckung einer „alten Stimme“ und führt Handlungen und Gefühle durch die Stimme aus, die auf das Erwachen von etwas Altem und jungen aus tiefem Schlaf hinweisen.

Inhaltlich beschreibt das Gedicht den Übergang von Jugend zur Reife. Es handelt von einem Jungen, der in einem grünen Roggenmeer liegt und die Welt um ihn herum beobachtet, während er körperlich und geistig reift. Er nimmt seine Umgebung in all ihrer Schönheit und Lebendigkeit wahr und hat erste vage Wahrnehmungen von Sexualität und Begehren, die sich in der Sprache des Erwachsenwerdens, der „Mannheit“, manifestieren.

Das lyrische Ich scheint in der Rolle eines Erzählers zu stehen, der die Reise dieses heranwachsenden Jungen beschreibt. Es nimmt eine Beobachterposition ein und schildert seine Erwachens- und Wandlungsphasen.

Formal besteht das Gedicht aus einer langen Strophe mit 31 Versen. Dabei prägen elementare, körperliche, sinnliche und zugleich naturnahe Bilder das Gedicht. Die Sprache ist stark bildhaft und wirkt dank der kunstvollen Verschachtelungen und Wiederholungen gleichzeitig rhythmisch und fließend. Es setzt Wortbilder ein, die Natur und Körperlichkeit miteinander verknüpfen und auf diesem Wege eine Atmosphäre der Sinnlichkeit erzeugen.

Abschließend lässt sich sagen, dass „Venus Anadyomene“ eine eindrucksvolle Darstellung des Erwachsenwerdens ist, die die körperlichen und geistigen Veränderungen in einer sinnlich-bildhaften Sprache festhält. Richard Dehmel verbindet in seinem Gedicht Natur und menschlichen Körper auf eine Weise, die beide Aspekte als Teile eines gemeinsamen, alle Lebewesen umfassenden Kreislaufs erscheinen lässt.

Weitere Informationen

Richard Dehmel ist der Autor des Gedichtes „Venus Anadyomene“. Dehmel wurde im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. München ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 31 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 162 Worte. Der Dichter Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Büßende Liebe“, „Chinesisches Trinklied“ und „Dann“. Zum Autor des Gedichtes „Venus Anadyomene“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

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