Unsterblich von Otto Ernst

Unlängst, als die Größte von den Kleinen,
Meinen Hals umschlingend, vor mir stand,
Fand sie jene Spur an meiner Schläfe,
Wo der Tod hinstrich mit zager Hand.
 
Größer wurden ihre großen Augen.
„Vater - schau! Ein graues Härchen! Schau!“
Und nach einem langen Sinnen sprach sie:
„Warum werden wohl die Menschen grau?“
 
„Nach der Sonne Glück, des Regens Trauer,
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Nach der Tage Glanz, der Nächte Tau
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Werden gelb die schönen grünen Blätter,
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Und der Menschen Haare werden grau.“
 
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Lange sah sie gradaus mir ins Antlitz.
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Plötzlich rief sie: „Väterchen, nicht wahr?
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Bitte, bitte, wenn es ausgefallen,
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Ach, dann gibst du’s mir, das liebe Haar!
 
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Betteln will ich auch bei Mutter, daß sie
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Jedes graue Haar mir geben muß.
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Sammeln will ich sie in meinem Kästchen,
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Und für jedes kriegt ihr einen Kuß.“ -
 
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Tod, du siehst, ich sitze gut im Sattel,
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Tod, mein guter Freund, ich spotte dein.
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Jedes Haar, das du gezeichnet, trägt mir
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Schönheit eines jungen Lebens ein.
 
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Sieh, mein Herz hab' ich mit festen Händen
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Hier im Grund des Hauses eingepflanzt;
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Seine Fülle wird noch Blüten treiben,
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Wenn der Wind mit meinem Staube tanzt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.9 KB)

Details zum Gedicht „Unsterblich“

Autor
Otto Ernst
Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
188
Entstehungsjahr
1907
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Unsterblich“ wurde vom deutschen Schriftsteller Otto Ernst verfasst, der zwischen 1862 und 1926 lebte. Er gehört somit der literarischen Epoche des Realismus an, allerdings lassen sich in seinem Werk auch Anklänge von Spätromantik oder Naturalismus finden.

Das Gedicht erzählt von einer intimen Begegnung zwischen dem lyrischen Ich, das wohl der normativen Geschlechterrolle zufolge als Vaterfigur zu interpretieren ist, und seiner Tochter. Die Mädchen entdeckt ein graues Haar an der Schläfe des Vaters, was eine Diskussion über das Altern und die Vergänglichkeit des Lebens anstößt. Der Vater erklärt es mit einem Naturvergleich und die Tochter nimmt das graue Haar als Erinnerungsstück an ihre Eltern, was den Vater zu der Aussage bewegt, dass er durch seine Kinder unsterblich wird.

Das lyrische Ich verweist auf die Schönheit des Alters und der Vergänglichkeit. Die Anwesenheit des Todes, die sich im Zeichen des grauen Haares manifestiert, wird nicht als bedrohlich, sondern als natürlicher Teil des Lebens dargestellt. Das lyrische Ich widerspricht der negativen Konnotation des Alters und des Todes und stellt sie stattdessen als wichtigen Aspekt des Lebens dar.

Im Hinblick auf Form und Sprache handelt es sich um ein metrisch gebundenes Gedicht, das aus sieben vierzeiligen Strophen besteht. Der Reim ist kreuzweise angeordnet (ABAB). Die einfache, klare Sprache und das Fehlen von Fremdwörtern macht das Gedicht leicht verständlich. Zudem benutzt der Autor einige bedeutungsschwere Symbole wie das graue Haar, das Alter und den Tod darstellt, oder das Kästchen, das die Erinnerungen symbolisiert.

Insgesamt ist das Gedicht „Unsterblich“ eine tiefgründige, gefühlvolle Auseinandersetzung mit Themen wie Alter, Tod und Unsterblichkeit. Es zeigt eine positive Sichtweise auf das Altern und betont die Unsterblichkeit, die im Weiterleben der Kinder und ihrer Erinnerungen liegt.

Weitere Informationen

Otto Ernst ist der Autor des Gedichtes „Unsterblich“. Im Jahr 1862 wurde Ernst in Ottensen bei Hamburg geboren. 1907 ist das Gedicht entstanden. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das Gedicht besteht aus 28 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 188 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Otto Ernst sind „Alles ist ewig“, „An einem leisen Bach“ und „Angelika“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Unsterblich“ weitere 64 Gedichte vor.

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