Apage, Josephine, apage–! von Kurt Tucholsky

In Wien zuckt zurzeit die Baker mit ihrem Popo,
und es zieren die Kugeln ihrer Brüste manch schönes Revue-Tableau.
Auch tanzt sie bald auf dem rechten, bald auf dem linken Bein –
und schielen kann sie, daß das Weiße nur so erglänzt in ihren Äugelein.
 
Dies haben die Zentrums-Schwarzen, die jungen und die alten,
leider für eine Anspielung auf die Kirche gehalten.
Auch fühlten sie sich bedroht in ihrer Sittlichkeit,
und sie ließen die Glocken läuten ganz wie in schwerer Zeit.
Drei Sühnegottesdienste stiegen auf zum oesterreichischen Himmel,
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und die Bußglocke gefiel sich in einem moralischen Gebimmel.
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Denn:
 
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Wenn eine schwarze Tänzerin gut gewachsen ist
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und einen Venus-Körper hat, der nicht aus Sachsen ist;
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und wenn sie tanzt, daß nur der Rhythmus so knackt,
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und wenn sie ein ganzes Theater bei allen Sinnen packt;
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und wenn das Leben bunt ist hierzulande –:
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das ist eine Schande.
 
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Wenn aber Christus, der gesagt hat: „Du sollst nicht töten!“,
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an seinem Kreuz sehen muß, wie sich die Felder blutig röten;
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und wenn die Pfaffen Kanonen und Flugzeuge segnen
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und in den Feldgottesdiensten beten, daß es Blut möge regnen;
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und wenn die Vertreter Gottes auf Erden
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Soldaten-Hammel treiben, auf daß sie geschlachtet werden;
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und wenn die Glocken läuten: „Mord!“ und die Choräle hallen:
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„Ihr sollt eure Feinde niederknallen!“
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Und wenn jemand so verrät den Gottessohn –:
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Das ist keine Schande.
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Das ist Religion.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Apage, Josephine, apage–!“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
226
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht stammt von Kurt Tucholsky, einem deutschen Schriftsteller und Publizisten jüdischer Herkunft, der vor allem für seine satirischen und gesellschaftskritischen Texte bekannt ist. Tucholsky lebte von 1890 bis 1935, das Gedicht ist also dem Kontext des ausgehenden Kaiserreichs, der Weimarer Republik und dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland zuzuordnen.

Das Gedicht ist im klassischen Tucholsky-Stil geschrieben: bissig, kritisch und pointiert. Bei einer ersten Lektüre fällt auf, dass es sich um das Leben in Wien, tabuisierte Themen wie Sexualität und die verlogene Moral der konservativen Kirche dreht.

Inhaltlich stellt das lyrische Ich im Bezug auf die Tänzerin Josephine Baker und ihren freizügigen Tanzstil zunächst einen scheinbaren Skandal dar. Doch dann wird dies in Relation gesetzt zu den wirklichen Missständen, namentlich den religiös motivierten Kriegen und der kirchlichen Heuchelei. Die Absurdität der Situation wird offensichtlich: Ein natürlicher, freudiger Tanz verursacht Aufruhr, während das richtige Skandalon, nämlich die Unterstützung von Krieg und Gewalt durch die Kirche, als Normalität akzeptiert wird. Die Doppelmoral und Bigotterie einer Gesellschaft, die sexuelle Freizügigkeit verurteilt, aber sinnlose Gewalt toleriert, wird sarkastisch entlarvt.

In Bezug auf die Form fällt auf, dass das Gedicht aus unterschiedlich langen Strophen mit freien Versen besteht, die von vier bis zu elf Zeilen reichen. Dadurch wird ein lebendiger, dynamischer Rhythmus erzeugt. Auffällig ist zudem der Gebrauch von ironischen und sarkastischen Formulierungen, wie zum Beispiel „die Kugeln ihrer Brüste“ oder „ein moralisches Gebimmel“. Diese Wortwahl unterstützt die gesellschaftskritische Aussage des Gedichts.

Kurzum: Tucholsky nutzt in „Apage, Josephine, apage–!“ seine scharfe Zunge, um auf groteske Widersprüche in Gesellschaft und Kirche hinzuweisen und die dort herrschende Scheinmoral anzuprangern. Sprachlich und formal gelingt ihm dies auf gewohnt pointierte und unterhaltsame Weise.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Apage, Josephine, apage–!“ des Autors Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1928 zurück. Der Erscheinungsort ist Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Der Schriftsteller Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den ihr zugerechneten Werken ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Erotik, Technik und Weltwirtschaftskrise deutlich erkennbar. Dies kann man als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Es sollten so viele Menschen wie möglich mit den Texten erreicht werden, deshalb wurde eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Jahr 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. In Folge dessen flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind typisch für diese Epoche der Literatur. Spezielle formale Merkmale weist die Exilliteratur nicht auf. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das vorliegende Gedicht umfasst 226 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 28 Versen. Der Dichter Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „All people on board!“, „Also wat nu – ja oder ja?“ und „An Lukianos“. Zum Autor des Gedichtes „Apage, Josephine, apage–!“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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