Ulalume von Edgar Allan Poe

Die Wolken thürmten sich mächtig,
Die Blätter waren verdorrt,
Sie waren kraus und verdorrt,
Es war Oktober und nächtig
An einem unseligen Ort.
Es war nahe dem bleiernen Wasser,
Das da so verschlafen steht,
Am Hain, wo des Nachts sich ein blasser,
Hohläugiger Schwarm ergeht.
 
10 
Die Gegend schroff und titanisch,
11 
Durchstreift’ ich mit Psyche allein,
12 
Meiner Seele, Psyche, allein,
13 
Zur Zeit, da mein Herz noch vulkanisch,
14 
Wie die Berge, die rastlos spei’n,
15 
Die Feuerströme ausspei’n,
16 
Wie der Berg am Nordpol, der kreißend
17 
Ein flammendes Meer gebiert,
18 
Das sich gewaltsam und reißend
19 
Hinunterstürzt und verliert,
20 
Hinunterwälzt und verliert.
 
21 
Unsre Rede war ernst und gemessen,
22 
Die Gedanken welk und verdorrt,
23 
Die Gedanken lahm und verdorrt.
24 
Das Gedächtniß war pflichtvergessen,
25 
Denn es mahnte uns nicht an den Ort,
26 
An die Zeit nicht, und nicht an den Ort.
27 
Wir ahnten nicht Ort und nicht Stunde
28 
Und nicht den Monat im Jahr,
29 
Den unsel’gen Monat im Jahr,
30 
Daß es nahe dem heimlichen Grunde
31 
Und dem bleiernen Wasser war.
 
32 
Und da nun die Nacht sich neigte
33 
Und der Zeiger der Sternenuhr,
34 
Der himmlischen Sternenuhr
35 
Dem Tag zustrebte, da zeigte
36 
Sich ein nebliger Schein am Azur.
37 
Und diesem weißlichen, zarten
38 
Duftschleier entschwebte zuletzt
39 
Das Diadem von Astarten
40 
Mit Diamanten besetzt.
 
41 
Und ich sprach: Sie ist wärmer und milder
42 
Als die keusche Schwester Apoll’s,
43 
Die flinke Schwester Apoll’s.
44 
Diana ist feuriger, wilder,
45 
Doch innerlich kühl und stolz.
46 
Sie aber wandelt durch Sphären
47 
Von Seufzern und wirft ihr Licht,
48 
Ihr sanftes, freundliches Licht
49 
Auf die nimmer trocknenden Zähren
50 
Im gramvollen Erdengesicht.
51 
Und kommt durch das Sternbild des Löwen
52 
Und weist uns den Weg zum Glück,
53 
Den Weg durch Lethe zum Glück
54 
Und kommt durch die Höhle des Löwen,
55 
Erwärmt uns mit Ihrem Blick,
56 
Mit ihrem liebenden Blick.
 
57 
Da sah ich Psyche erschaudern.
58 
Sie sprach: Ich trau’ ihr nicht,
59 
Ich trau’ dieser Blässe nicht.
60 
O komm, o laß’ uns nicht zaudern,
61 
Ich fürchte dies weiße Licht,
62 
Dies weiße, flackernde Licht.
63 
Eine Angst, unbeschreiblich, unsäglich
64 
Durchbebte sie, während sie sprach,
65 
Während so hastig sie sprach,
66 
Sie schluchzte und schleppte kläglich
67 
Ihre Schwingen am Boden nach,
68 
Die Schwingen im Staube nach.
 
69 
Ich erwiderte: Du siehst Gespenster,
70 
Laß uns tauchen in dieses Meer,
71 
Dies krystallene, leuchtende Meer,
72 
Sein Raum ist ein unbegrenzter,
73 
Sieh nur, hin wogt es und her,
74 
Es zittert und wogt hin und her,
75 
Es strahlt und fluthet im Blauen
76 
Mit wahrhaft sybillischer Pracht,
77 
Glaub’ nur, wir dürfen ihm trauen,
78 
Es leuchtet uns durch die Nacht,
79 
Wir dürfen dem Wegweiser trauen,
80 
Denn er leuchtet zu Gott durch die Nacht.
 
81 
So suchte ich sie zu beschwicht’gen
82 
Und küßte sie brüderlich warm,
83 
Ich küßte sie zärtlich und warm,
84 
Und ich sah ihre Angst sich verflücht’gen
85 
Und wir eilten voran Arm in Arm.
86 
Durch dunkle Cypressenalleeen
87 
Und athmeten ihren Duft –
88 
Da blieben wir plötzlich stehen
89 
Vor der Thüre zu einer Gruft,
90 
Zu einer mystischen Gruft.
91 
Und ich sprach: Was sagt dieser stumme,
92 
Bedeutsame Mund von Stein?
93 
Da erwiderte sie: Ulalume –
94 
Hier ruht Ulalumens Gebein,
95 
Deiner Ulalume Gebein. –
 
96 
Da ward stumpf mein Herz und ohnmächtig,
97 
Und wie die Blätter verdorrt,
98 
Wie die Blätter welk und verdorrt.
99 
Ja, Oktober war es und nächtig,
100 
Rief ich aus und an diesem Ort,
101 
Ich erkenne deutlich den Ort.
102 
Am Teich erging sich ein blasser,
103 
Hohläugiger, grinsender Schwarm,
104 
Und ich irrte an diesem Wasser
105 
Eine schaurige Bürde im Arm,
106 
Ein kalte Bürde im Arm. –
 
107 
Die Wolken thürmten sich mächtig,
108 
Die Blätter waren verdorrt.
109 
Es war Oktober und nächtig
110 
An einem unseligen Ort.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.6 KB)

Details zum Gedicht „Ulalume“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
110
Anzahl Wörter
579
Entstehungsjahr
nach 1825
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ulalume“ wurde von Edgar Allan Poe verfasst, einem amerikanischen Autor, der von 1809 bis 1849 lebte. Poe ist vor allem für seine düster-makabren Geschichten bekannt, und diese spezifische Thematik überträgt sich auch auf sein lyrisches Werk. Das Gedicht wurde 1847 veröffentlicht, was es in die Mitte des 19. Jahrhunderts und in die Epoche der Romantik einordnet.

Auf den ersten Blick zeichnet „Ulalume“ ein prägnantes Bild von Einsamkeit, Melancholie und Vergänglichkeit, das durch die dunkle und bedrohliche Atmosphäre der dargestellten Herbstnacht unterstrichen wird.

Das lyrische Ich erzählt von einem Spaziergang durch eine düstere und unheimliche Landschaft, begleitet von Psyche - hier als personifizierte Seele verstanden. Es wird ein innerer Unruhezustand beschrieben, der mit der bleiernen Natur und der unheilvollen Umgebung kontrastiert. Sie werden von einem Stern angezogen, der zuerst als Hoffnungsstrahl erscheint, aber später durch Psyche als trügerisch entlarvt wird. Am Ende des Gedichts offenbart sich, dass sie an das Grab von Ulalume gelangt sind, einer geliebten Person, deren Tod das lyrische Ich verdrängt hatte. Dieser Ort des Schmerzes und der Trauer wird als „unseliger Ort“ bezeichnet.

Das Gedicht, das in zehn Strophen mit variierender Versanzahl geschrieben ist, nutzt eine reiche und bildhafte Sprache, voller Metaphern und Anspielungen. Die Strophen sind nicht durch einen konstanten Rhythmus oder ein festes Reimschema gekennzeichnet, was die unstete und unruhige Stimmung des Gedichts unterstreicht. Poe verwendet wiederholte Worte und Strukturen („Die Wolken thürmten sich mächtig, Die Blätter waren verdorrt, Es war Oktober und nächtig An einem unseligen Ort“), was eine hypnotische und düstere Atmosphäre schafft und die Stimmung von Verlust und Trauer verstärkt.

Im Gesamten erzählt „Ulalume“ die Geschichte einer nächtlichen, unbewussten Wanderung zu einem Ort tief verwurzelter Trauer und verdrängter Erinnerungen und thematisiert dabei sowohl die Unausweichlichkeit des Todes als auch die menschliche Reaktion darauf. Poetische Bilder und aufgeladene Begriffe verbinden äußere Landschaft und innere Seelenlandschaft miteinander und erzeugen eine dichte, emotionale Atmosphäre. Unerklärlicher Schmerz, Verlust und das Ringen mit der eigenen Sterblichkeit bildet den Kern des Gedichts und spiegelt damit eine typische Strömung in Poes Arbeit wider.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Ulalume“ des Autors Edgar Allan Poe. Im Jahr 1809 wurde Poe in Boston, USA geboren. In der Zeit von 1825 bis 1849 ist das Gedicht entstanden. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 579 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 110 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Edgar Allan Poe ist auch der Autor für Gedichte wie „An Zante“, „Annabel Lee“ und „Das Kolosseum“. Zum Autor des Gedichtes „Ulalume“ haben wir auf abi-pur.de weitere 17 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Edgar Allan Poe

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Edgar Allan Poe und seinem Gedicht „Ulalume“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Edgar Allan Poe (Infos zum Autor)

Zum Autor Edgar Allan Poe sind auf abi-pur.de 17 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.