Träumerei auf einem Havelsee von Kurt Tucholsky

Ich bin Prokurist einer Wäschefabrik,
Sternberg, Guttmann & Sohn.
Mein Segelboot heißt „Heil und Sieg“,
zwei Stunden lieg ich hier schon
und seh auf die Kiefern und in das Wasser hinein –
auf meinem Boot ganz allein.
 
Urlaub hatte ich im August,
ich war in Norderney,
mit Lilly… ihre linke Brust
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sieht aus wie ein kleines Ei.
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Wenn man sie da kneift, dann wird sie gemein –
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auf meinem Boot ganz allein.
 
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Graske ist ein gemeiner Hund,
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ein falsches Aas – er tut bloß so…
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er weiß, der Alte ist nicht ganz gesund;
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wenn mans merkt, bleibt er länger im Bureau.
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Und dem Junior kriecht er jetzt auch hinten rein –
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auf meinem Boot ganz allein.
 
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Mutter wird alt. Wie alt… warte mal:
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vierundsechzig, nein: achtundsechzig, genau.
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Grete soll ganz still sein; sie pöbelt mit ihrem Personal
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wie eine Schlächtersfrau.
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Ich frage mich: muß eigentlich Verwandtschaft sein?
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auf meinem Boot ganz allein.
 
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Ich habe es schließlich zu was gebracht,
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ich geh auf den Presseball;
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auf Reisen fahre ich Zweiter; die Jacht
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hier hieß früher „Nachtigall“.
 
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Quatsch. Jetzt heißt sie richtig. Manchmal lade ich Willi und Ottmar ein –
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nein, Ottmar nicht, der hat mich bei den jungen Aktien
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nicht mitgenommen – schließlich werde ich dem Affen doch
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nicht nachlaufen, das hab ich nicht nötig; stehen jetzt 192,
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193… wo ist denn die Zeitung? –
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auf meinem Boot ganz allein.
 
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Das ist meine liebste Erholungszeit,
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auf meinem Boot ganz allein.
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Kein Mensch ist zu sehen weit und breit –
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kann man einsamer sein?
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Eine Welle gluckst. Ich bin einsam. Zwar
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die Inventur beginnt morgen,
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und wie die Sirenen mit schwimmendem Haar
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ziehen im See meine Sorgen:
 
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Lilly, Mama und die Wäschefabrik,
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die Reparatur von „Heil und Sieg“,
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Graske und Ottmar, der Egoist;
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wer im Silbenrätsel „Fayence-Maler“ ist –;
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der Krach mit dem Chef von der Expedition;
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die Weihnachtsgratifikation –
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sonst aber schwimme ich hier im märkischen Sonnenschein –
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auf meinem Boot ganz allein.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.7 KB)

Details zum Gedicht „Träumerei auf einem Havelsee“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
50
Anzahl Wörter
309
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Träumerei auf einem Havelsee“ stammt von dem deutschen Schriftsteller und Journalisten Kurt Tucholsky. Tucholsky, der von 1890 bis 1935 lebte, war ein bekannter Vertreter der literarischen Moderne, insbesondere der 1920er Jahre.

Beim ersten Hören oder Lesen fällt auf, dass das Gedicht eine Momentaufnahme darstellt, innerhalb dessen der Autor, im Rahmen einer Selbstreflexion einzelne Aspekte seines Lebens und seiner Umgebung thematisiert.

Das lyrische Ich ist ein Prokurist einer Wäschefabrik und beschreibt Alltagseindrücke und Selbstbetrachtungen, während es auf seinem Segelboot sitzt. Er reflektiert über seinen Urlaub, Kollegen, Familie und Hobbies. Mehrmals betont er, dass er allein auf seinem Boot sitzt, wobei dies wohl symbolisch für seine Sehnsucht nach Ruhe und Abgeschiedenheit steht. Der Wechsel von Alltäglichem und Persönlichem lässt ein Bild entstehen, welches von unerfüllten Hoffnungen, Konflikten im Berufs- und Privatleben und von der Suche nach Ruhe und Ausgeglichenheit geprägt ist.

Formal besteht das Gedicht aus acht Strophen mit jeweils unterschiedlicher Anzahl an Versen. Diese variiert zwischen vier und acht Versen. Es gibt kein festes Reimschema, aber der wiederkehrende Vers „auf meinem Boot ganz allein“ wirkt wie ein Refrain und verbindet die einzelnen Strophen thematisch miteinander.

Die Sprache des Gedichts ist eher einfach und alltagsnah, es werden viele direkte Redewendungen und umgangssprachliche Ausdrücke verwendet. Dadurch wirkt das Gedicht recht lebensnah und authentisch. Es scheint, als würde der Sprecher mit sich selbst reden und seine Gedanken und Gefühle ungefiltert ausdrücken.

Insgesamt eröffnet das Gedicht einen Einblick in das Seelenleben eines Einzelnen, der mitten im Arbeitsleben steht und gleichzeitig mit privaten Problemen konfrontiert ist. Es konfrontiert uns auch mit der Sehnsucht nach Erholung und innerem Frieden, den das lyrische Ich auf seinem Boot zu suchen scheint. Dieses Boot, als Metapher des persönlichen Refugiums, steht dabei für Freiheit, Autonomie und Distanz zur Außenwelt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Träumerei auf einem Havelsee“ des Autors Kurt Tucholsky. Geboren wurde Tucholsky im Jahr 1890 in Berlin. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1929. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik nahmen der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung der Weimarer Republik. Das wohl bedeutendste Merkmal der Literatur in der Weimarer Republik ist die Neue Sachlichkeit, die so heißt, da sie schlicht, klar, sachlich und hoch politisch ist. Die Literatur dieser Zeit war nüchtern und realistisch. Ebenso stellt sie die moderne Gesellschaft kühl distanziert, beobachtend, dokumentarisch und exakt dar. Die Autoren der Literaturepoche wollten so viele Menschen wie möglich mit ihren Texten erreichen, deshalb wurde eine einfache und nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil fliehen, also ihre Heimat verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die Exilliteratur bildet eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Expressionismus, Realismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das vorliegende Gedicht umfasst 309 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 50 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „All people on board!“, „Also wat nu – ja oder ja?“ und „An Lukianos“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Träumerei auf einem Havelsee“ weitere 136 Gedichte vor.

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