Trunkenes Lied von Kurt Tucholsky

Der Igel sprach zum Oberkellner:
„Bedienen Sie mich ein bißchen schnellner!
Suppe – Gemüse – Rostbeaf – und Wein!
Ich muß in den Deutschen Reichs-Igel-Verein!“
 
Da sprach der Oberkellner zum Igel:
„Ich hab so ein komisches Gefiegel –
ich bediene sonst gerne, prompt und coulant,
aber ich muß in den Oberkellner-Verband!“
 
Der Igel saß stumm, ohne zu acheln,
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und sträubte träumerisch seine Stacheln –
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Messer und Gabel rollten über die Decke.
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Sie rollten zum Reichsverband Deutscher Bestecke.
 
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Des wunderte der Igel sich.
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Er ging in „Für Herren“ züchtiglich;
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doch der Alte, der dort reine macht,
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war auf der Deutschen Klosettmänner-Nacht.
 
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Ein Rauschen ging durch des Igels Stoppeln –
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er tät bedrippt nach Hause hoppeln
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und sprach unterwegs
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(und aß einen Keks):
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„Ich wohne gern. Aber seit ich in Deutschland wohne,
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ist mein igeliges Leben gar nicht ohne.
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Sie sind stolz, weil sie sich in Gruppen mühn –
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doch sie sind nur gestörte Individühn,
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Menschen? Mitglieder sind diese Leute.
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Unsern täglichen Verband gib uns heute!
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Amen.“
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(sagte der Igel).
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Trunkenes Lied“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
161
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Trunkenes Lied“ der vorliegt, wurde von dem deutschen Schriftsteller Kurt Tucholsky verfasst, der von 1890 bis 1935 lebte. Dies lässt auf eine Einordnung in die Zeit der Weimarer Republik schließen, eine politisch und sozial unruhige Zeit in der deutschen Geschichte.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht humorvoll und absurd, mit einem Igel, der versucht bedient zu werden, verschiedenen Vereinen und schließlich Besteck und einem Klosettmann, der zu einem Treffen geht. Allerdings verrät der Titel „Trunkenes Lied“ und das Rauschen durch des Igels Stoppeln, dass Tucholsky hier womöglich die Darstellung einer entfremdeten, betrunkenen und unzufriedenen Perspektive auf die Gesellschaft anstrebt.

Der Inhalt des Gedichts beschreibt eine Reihe von Absurditäten, denen der Igel begegnet, wenn er versucht zu essen und zu bedienen ist. Er betritt ein Restaurant, aber der Kellner muss zum Oberkellner-Verband, die Besteckteile rollen zum Reichsverband Deutscher Bestecke und der Klosettmann, der das Bad reinigen soll, ist bei der Deutschen Klosettmänner-Nacht. Schließlich landet der Igel nach Hause und beschwert sich über das Leben in Deutschland, voller Gruppierungen und ständiger Mitgliedschaften.

Die absurde und humoristische Darstellung offenbart eine kritische Betrachtung der deutschen Gesellschaft und der Kultur der Vereine und Verbände. Das lyrische Ich, durch den Igel repräsentiert, scheint die Fragmentierung der Gesellschaft in unzählige Verbände und die Entmenschlichung ihrer Mitglieder zu kritisieren. „Sie sind nur gestörte Individühn, Menschen? Mitglieder sind diese Leute. Unseren täglichen Verband gib uns heute.“ Dies lässt darauf schließen, dass das lyrische Ich sich von der Gesellschaft entfremdet und ratlos fühlt.

Das Gedicht folgt keiner klassischen Reimstruktur, was zu seiner unkonventionellen und absurden Atmosphäre beiträgt. Die Sprache des Gedichts ist einfach, direkt und leicht absurd, mit einer Mischung aus alltäglichen und surrealen Elementen. Tucholsky nutzt seine scharfe Ironie und das Wortspiel, um seine Kritik an der deutschen Gesellschaft und Kultur zu betonen. Diese Kombination aus Humor und Kritik ist kennzeichnend für sein Werk und macht es so kraftvoll und einprägsam.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Trunkenes Lied“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Kurt Tucholsky. Geboren wurde Tucholsky im Jahr 1890 in Berlin. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1929. In Berlin ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik nahmen der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung der Weimarer Republik. Bei der Neuen Sachlichkeit war der Inhalt der Texte wichtiger als die Form. Die Autoren dieser Bewegung wollten mit ihren Texten möglichst viele Menschen aus allen sozialen Schichten ansprechen. Aus diesem Grund wurden die Texte in einer alltäglichen Sprache verfasst und wurden oft im Stile einer dokumentarisch-exakten Reportage geschrieben. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung von Walter Rathenau das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die zum Beispiel in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz setze den Schriftstellern dieser Zeit noch mal verstärkt Grenzen. 1931 trat die Pressenotverordnung in Kraft, dadurch waren die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate hinweg möglich geworden.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht im Ausland suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk im Heimatland bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist politische oder religiöse Gründe den Ausschlag. Die deutsche Exilliteratur entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten zum Beispiel die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten in den Jahren 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den typischen Themenschwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus erkennen. Anders als andere Literaturepochen, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das vorliegende Gedicht umfasst 161 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 28 Versen. Die Gedichte „Achtundvierzig“, „All people on board!“ und „Also wat nu – ja oder ja?“ sind weitere Werke des Autors Kurt Tucholsky. Zum Autor des Gedichtes „Trunkenes Lied“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

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