Tolstojs Tod von Erich Mühsam

1	Die Liebe ist verwaist. Ihr stärkster Hort,
2	ihr Schützer, ihr Prophet, ihr Held, ihr Sohn,
3	die menschgewordne Liebe selbst ging fort.
4	Das Herz der Welt erbebt in seinen Festen,
5	erschüttert von des Worts Posaunenton,
6	vom Testament des Weisesten und Besten.
7	Er ging, wie nie ein Mensch noch sterben ging,
8	nicht müde flüchtend, nicht mit Todesbeben;
9	er sprengte seines Daseins goldnen Ring,
10	zu einen seines Herzens mächtigen Schlag
11	mit dem der Welt. – An seinem Sterbetag
12	grüßt ihn der Sieg des langen Kampfs: das Leben...
13	Noch schläft die Sonne hinter Reif und Frost;
14	vereiste Wege, nur vom Schnee erhellt,
15	durchkreuzen bleich und lang erfrorne Gründe.
16	Durch den Novembermorgen pfeift und gellt,
17	wie Atemstöße roher Menschensünde,
18	von Schmerz und Wollust heulend der Nordost.
19	Da trappeln Pferde. Eine Wagenspur
20	spult flimmernd sich im schneeigen Boden ab.
21	Ein Greis verläßt sein Weib, sein Gut, sein Haus.
22	Hinaus in Gottes einsame Natur!
23	Die Hufe schlagen auf im scharfen Trab, –
24	in Rußlands stillste Einsamkeit hinaus.
25	Was arme Menschen Wohlstand dünkt und Glück:
26	Bequemlichkeit und festliches Geschmeide
27	und Zärtlichkeit und liebende Betreuung, –
28	der flüchtige Greis wirft keinen Blick zurück.
29	Die Seele, eingekrustet im Genuß,
30	sehnt sich nach Reinigung und nach Erneuung.
31	Sie wäscht sich rein von aller Menschheit Leid
32	Und aller Menschheit weiht sie ihren Kuß. –
33	Sucht nicht den Gatten, sucht den Vater nicht,
34	der ohne Abschied ging, um Gott zu finden;
35	in seiner Sterbestunde für die Blinden
36	Gott anzuflehn um Stab und Mut und Licht.
37	Der euch verließ, gehört euch nicht allein.
38	Stört nicht sein Tun, so ihr die Menschheit achtet!
39	Wenn ihr barmherzig seid, tränkt nicht mit Wein
40	den Sterblichen, der nach Erlösung schmachtet! –
41	Der Tag steigt auf. Die helle Sonne leuchtet
42	ins herbstliche Gefild mit heller Glut,
43	daß rings vom Tau und Schnee sich funkelnd feuchtet,
44	und daß des Greisen welke Brust sich dehnt,
45	noch einmal sich zurück zur Jugend sehnt,
46	noch einmal rascher rieseln fühlt das Blut.
47	Dann sinkt der Leib zusammen siech und schwach. –
48	Nur rasch ihn betten unters nächste Dach! –
49	Und die ihn lieben, kommen, ihn zu pflegen,
50	noch einmal seine bleiche Hand zu küssen
51	und zu empfangen Scheidegruß und Segen.
52	Er wehrt sie ab. Schon dorren seine Lungen,
53	schon jagt in irrem Schlag der Puls des Kranken:
54	In dieser Stunde nicht bedrängt sein müssen
55	von Zärtlichkeiten und Erinnerungen.
56	Nur noch zu Gott die Worte und Gedanken! –
57	Da draußen liegt die weite weiße Erde,
58	das Schlachtfeld, wo Millionen Menschen leiden,
59	wo Haß und Kampf und Kriege und Beschwerde
60	das Menschenherz von seiner Gottheit scheiden.
61	Liebt euch! Seid Freunde, Brüder! Haltet Frieden!
62	Seid gut und widerstehet der Gewalt! – –
63	Der Sterbende hat an die Bahnstation
64	die ganze Menschheit vor sein Bett beschieden,
65	befiehlt ihr, Gottes Odem einzusaugen.
66	Er atmet auf. Ein Todeshauch weht kalt
67	um Herz und Stirne, – und der Menschensohn
68	erkennt den Gott und seufzt und schließt die Augen.
69	Sein Herzschlag hat sich dem der Welt vereint. –
70	Die Liebe ist verwaist. – Die Menschheit weint.

Details zum Gedicht „Tolstojs Tod“

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Tolstojs Tod“ wurde von Erich Mühsam geschrieben, einem bedeutenden deutschen Schriftsteller und Anarchisten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Mühsam veröffentlichte dieses epische Gedicht im Jahr 1910, unmittelbar nach dem Tod des berühmten russischen Schriftstellers Leo Tolstoi.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht ehrfurchtsvoll und feierlich, es hat eine intensive emotionale Tiefe. Es konzentriert sich auf das Leben, den Tod und das Erbe von Tolstoi, einem Mann, den Mühsam als Held, Prophet und Verkörperung der Liebe darstellt.

Inhaltlich setzt sich das Gedicht stark mit der Person Tolstojs auseinander. Es skizziert seinen Tod als eine Art Befreiungs- und Reinigungsprozess und sein Erbe als ein mächtiger Aufruf zur Menschlichkeit. Tolstoi wird als Gottesgleicher, heldenhafter Mensch dargestellt, der seine satte Lebensweise verlässt, um Versöhnung und Wahrhaftigkeit zu suchen. Mühsam spricht von der Stärke und dem Mut des sterbenden Tolstois, der trotz seines nahenden Endes der Menschheit eine letzte Botschaft des Friedens und der Brüderlichkeit hinterlässt.

Die Form des Gedichts ist episch, mit insgesamt 70 Versen, die in drei Strophen unterteilt sind. Mühsam verwendet eine dramatische und bildhafte Sprache, um die letzten Augenblicke Tolstois und die tiefgreifende Wirkung seines Todes auf die Welt nachzuzeichnen. Es ist charakteristisch für die Arbeiten von Mühsam, die oft eine starke Botschaft von Frieden und sozialer Gerechtigkeit enthalten.

Im Ganzen gesehen drückt „Tolstojs Tod“ tiefen Respekt und Bewunderung für Leo Tolstois Leben und seine philosophischen Überzeugungen aus. Es vermittelt ein lebendiges Bild seines Todes und stellt es als symbolträchtiges Ereignis dar, das die Welt aufrief zu Liebe, Frieden und Brüderlichkeit. In seiner Dichtung huldigt Mühsam dem großen Schriftsteller und erinnert die Nachwelt an sein Erbe.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Tolstojs Tod“ des Autors Erich Mühsam. Im Jahr 1878 wurde Mühsam in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1920. Der Erscheinungsort ist München. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Mühsam ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 481 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 70 Versen. Erich Mühsam ist auch der Autor für Gedichte wie „Barbaren“, „Bauchweh“ und „Betäubung“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Tolstojs Tod“ weitere 57 Gedichte vor.

Weitere Gedichte des Autors Erich Mühsam (Infos zum Autor)

• ... Der für die Menschheit starb
• 1919
• An die Dichter
• An die Soldaten
• Barbaren
• Bauchweh
• Betäubung
• Das Beispiel lebt
• Das Volk der Denker
• Das Neue Deutschland

Zum Autor Erich Mühsam sind auf abi-pur.de 57 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.