Titelblatt von Rainer Maria Rilke

Die Reichen und Glücklichen haben gut schweigen,
niemand will wissen was sie sind.
Aber die Dürftigen müssen sich zeigen,
müssen sagen: ich bin blind
oder: ich bin im Begriff es zu werden
oder: es geht mir nicht gut auf Erden
oder: ich habe ein krankes Kind
oder: da bin ich zusammengefügt …
 
Und vielleicht, daß das gar nicht genügt.
 
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Und weil alle sonst, wie an Dingen,
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an ihnen vorbeigehn, müssen sie singen.
 
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Und da hört man noch guten Gesang.
 
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Freilich die Menschen sind seltsam; sie hören
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lieber Kastraten in Knabenchören.
 
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Aber Gott selber kommt und bleibt lang
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wenn ihn diese Beschnittenen stören.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.2 KB)

Details zum Gedicht „Titelblatt“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
16
Anzahl Wörter
101
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Titelblatt“ wurde von Rainer Maria Rilke verfasst, der von 1875 bis 1926 lebte. Somit handelt es sich um ein Werk der Moderne. Der erste Eindruck vermittelt eine klare Auseinandersetzung mit den Themen sozialer Ungleichheit und menschlichen Leidens.

Inhaltlich bringt das lyrische Ich im Gedicht seine Kritik an der Ungleichheit zwischen reichen und armen Menschen zum Ausdruck. Die Reichen können laut Rilke schweigen und für sich bleiben, doch die Armen müssen ihre Not offenbaren und sie sind es, die sich für ihre Umstände rechtfertigen müssen. Sie müssen zugeben, dass sie krank, blind, unglücklich oder in Not sind. Das lyrische Ich deutet an, dass diese Offenbarung möglicherweise nicht ausreicht, um Verständnis oder Hilfe zu erlangen. Sie sind gezwungen, zu „singen“, d.h. ihre Geschichten zu erzählen, als einzige Möglichkeit, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das lyrische Ich bemerkt ironisch, dass die Menschen lieber den unnatürlichen und verstümmelten Stimmen der Kastraten in Knabenchören zuhören. Doch Gott, so wird im Schlussabschnitt gesagt, hat Geduld und ist bereit, den Geschichten der Armen und Leidenden zuzuhören.

Rilkes Gedicht fasst soziale Ungerechtigkeit und die Ignoranz der Gesellschaft gegenüber dem Leiden der Armen in einer Sprache zusammen, die sowohl direkt als auch metaphorisch ist. Die Struktur des Gedichts ist ungewöhnlich, es gibt keine Reimform und die Länge der Strophen variiert. Die einfache Sprache und der direkte Umgang mit den Themen lassen die Botschaft schlagkräftig und unvergesslich wirken. Rilke verwendet bildhafte Ausdrücke wie „ich bin blind“ oder „ich habe ein krankes Kind“, um die schwierigen Lebensumstände der Armen zu verdeutlichen. Zudem nutzt er das Bild des singenden Bettlers, um zu zeigen, dass diejenigen, die leiden, ihre Geschichten erzählen müssen, um Beachtung zu finden.

Abschließend betrachtet, ist Rilkes „Titelblatt“ eine scharfe Kritik an der sozialen Ungleichheit und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Leiden der Armen, verpackt in einer starken, einfachen und direkten Sprache und Form.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Titelblatt“ ist Rainer Maria Rilke. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1906 entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin / Leipzig, Stuttgart. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 16 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 101 Worte. Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Absaloms Abfall“, „Adam“ und „Advent“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Titelblatt“ weitere 338 Gedichte vor.

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