Terzinen über Vergänglichkeit von Hugo von Hofmannsthal

Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
 
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
 
Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.
 
10 
Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
11 
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
12 
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,
 
13 
So eins mit mir als wie mein eignes Haar.
 
14 
II
15 
Die Stunden! wo wir auf das helle Blauen
16 
Des Meeres starren und den Tod verstehn,
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So leicht und feierlich und ohne Grauen,
 
18 
Wie kleine Mädchen, die sehr blaß aussehn,
19 
Mit großen Augen, und die immer frieren,
20 
An einem Abend stumm vor sich hinsehn
 
21 
Und wissen, daß das Leben jetzt aus ihren
22 
Schlaftrunknen Gliedern still hinüberfließt
23 
In Bäum' und Gras, und sich matt lächelnd zieren
 
24 
Wie eine Heilige, die ihr Blut vergießt.
 
25 
III
26 
Wir sind aus solchem Zeug, wie das zu Träumen,
27 
Und Träume schlagen so die Augen auf
28 
Wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen,
 
29 
Aus deren Krone den blaßgoldnen Lauf
30 
Der Vollmond anhebt durch die große Nacht.
31 
... Nicht anders tauchen unsre Träume auf,
 
32 
Sind da und leben wie ein Kind, das lacht,
33 
Nicht minder groß im Auf- und Niederschweben
34 
Als Vollmond, aus Baumkronen aufgewacht.
 
35 
Das Innerste ist offen ihrem Weben;
36 
Wie Geisterhände in versperrtem Raum
37 
Sind sie in uns und haben immer Leben.
 
38 
Und drei sind Eins: ein Mensch, ein Ding, ein Traum.
 
39 
IV
40 
Zuweilen kommen niegeliebte Frauen
41 
Im Traum als kleine Mädchen uns entgegen
42 
Und sind unsäglich rührend anzuschauen,
 
43 
Als wären sie mit uns auf fernen Wegen
44 
Einmal an einem Abend lang gegangen,
45 
Indes die Wipfel atmend sich bewegen
 
46 
Und Duft herunterfällt und Nacht und Bangen,
47 
Und längs des Weges, unsres Wegs, des dunkeln,
48 
Im Abendschein die stummen Weiher prangen
 
49 
Und, Spiegel unsrer Sehnsucht, traumhaft funkeln,
50 
Und allen leisen Worten, allem Schweben
51 
Der Abendluft und erstem Sternefunkeln
 
52 
Die Seelen schwesterlich und tief erbeben
53 
Und traurig sind und voll Triumphgepränge
54 
Vor tiefer Ahnung, die das große Leben
 
55 
Begreift und seine Herrlichkeit und Strenge.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Terzinen über Vergänglichkeit“

Anzahl Strophen
20
Anzahl Verse
55
Anzahl Wörter
360
Entstehungsjahr
1894
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Terzinen über Vergänglichkeit“ wurde von Hugo von Hofmannsthal verfasst, einem renommierten österreichischen Schriftsteller der Moderne. Laut Lebensdaten des Autors (1874 bis 1929) kann das Gedicht zeitlich in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts eingegliedert werden.

Auf den ersten Blick fallen die vielen bildhaft-gefühlvollen Metaphern und Vergleiche des Gedichts auf. Es erweckt einen Eindruck von Melancholie und introspektiver Reflexion über Leben, Tod und Vergänglichkeit.

In seinem Inhalt sieht sich das lyrische Ich mit der vergangenen und flüchtigen Zeit konfrontiert (Strophe 1 und 2), reflektiert sein eigenes Heranwachsen (Strophe 3) und versinnbildlicht sein Verhältnis zu seinen Vorfahren (Strophe 4). Die Fortsetzung (Strophe 6 bis 14) erscheint wie eine philosophische Kontemplation über Leben und Tod, Mensch und Natur, Träume und Realität. Schließlich (Strophe 15 bis 20) beschreibt das lyrische Ich die tiefe Verbundenheit und Vertrautheit, die es in der Begegnung mit „niegeliebten Frauen“ in seinen Träumen empfindet.

Formal ist das Gedicht in Terzinen gegliedert, also Dreiversreihen, die dem Inhalt des Gedichts eine rhythmisch fließende Struktur verleihen und die Vergänglichkeitsthematik unterstreichen. Die Sprache von Hofmannsthal ist dabei bildhaft und metaphorisch, teils nüchtern beobachtend, teils hoch emotional. Der verwendete Vergleich von Träumen und kleinen Kindern unter Kirschbäumen (Strophe 10 und 11) oder die Metapher vom „Hund unheimlich stumm und fremd“ (Strophe 3) illustrieren dies sehr deutlich.

Mit dem Gedicht „Terzinen über Vergänglichkeit“ bringt Hugo von Hofmannsthal die existenzielle Auseinandersetzung mit der Flüchtigkeit der Zeit, der fortwährenden Veränderung und der Kontinuität des Menschseins zum Ausdruck. Die auffallende Kombination aus tiefsinniger Philosophie, emotionaler Innenschau und sprachlicher Poesie macht dieses Werks des modernen Autors zu einem bemerkenswerten Literaturstück.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Terzinen über Vergänglichkeit“ des Autors Hugo von Hofmannsthal. 1874 wurde Hofmannsthal in Wien geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1894. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Der Schriftsteller Hofmannsthal ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 360 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 55 Versen mit insgesamt 20 Strophen. Die Gedichte „Der Kaiser von China spricht“, „Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt“ und „Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer“ sind weitere Werke des Autors Hugo von Hofmannsthal. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Terzinen über Vergänglichkeit“ weitere 40 Gedichte vor.

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