Sängerwürde von Johann Wolfgang von Goethe

Unter diesen
Lorbeerbüschen,
Auf den Wiesen,
An den frischen
Wasserfällen,
Meines Lebens zu genießen
Gab Apoll dem heitern Knaben;
Und so haben
Mich, im Stillen,
10 
Nach des Gottes hohem Willen,
11 
Hehre Musen auferzogen,
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Aus den hellen
13 
Silberquellen
14 
Des Parnassus mich erquicket,
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Und das keusche reine Siegel
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Auf die Lippen mir gedrücket,
 
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Und die Nachtigal umkreißet
18 
Mich mit dem bescheidnen Flügel;
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Hier in Büschen, dort auf Bäumen,
20 
Ruft sie die verwandte Menge,
 
21 
Und die himmlischen Gesänge
22 
Lehren mich von Liebe träumen.
 
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Und im Herzen wächst die Fülle
24 
Der gesellig edlen Triebe,
25 
Nährt sich Freundschaft, keimet Liebe,
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Und Apoll belebt die Stille
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Seiner Thäler seiner Höhen.
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Süße lauhe Lüfte wehen.
29 
Alle, denen er gewogen
30 
Werden mächtig angezogen
31 
Und ein Edler folgt dem andern.
 
32 
Dieser kommt mit munterm Wesen
33 
Und mit offnem, heitern Blicke;
34 
Diesen seh ich ernster wandeln;
35 
Und ein andrer, kaum genesen,
36 
Ruft die alte Kraft zurücke,
37 
Denn ihm drang durch Mark und Leben
38 
Die verderblich holde Flamme,
39 
Und was Amor ihm entwendet,
40 
Kann Apoll nur wieder geben,
41 
Ruh und Lust und Harmonien
42 
Und ein kräftig rein Bestreben.
 
43 
Auf ihr Brüder,
44 
Ehrt die Lieder!
45 
Sie sind gleich den guten Thaten.
46 
Wer kann besser als der Sänger
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Dem verirrten Freunde rathen?
48 
Wirke gut, so wirkst du länger
49 
Als es Menschen sonst vermögen.
 
50 
Ja! ich höre sie von weiten,
51 
Ja! sie greifen in die Saiten,
52 
Mit gewalt’gen Götterschlägen
53 
Rufen sie zu Recht und Pflichten
54 
Und bewegen,
55 
Wie sie singen wie sie dichten,
56 
Zum erhabensten Geschäfte,
57 
Zu der Bildung aller Kräfte.
 
58 
Auch die holden Phantasien
59 
Blühen
60 
Rings umher auf allen Zweigen
61 
Die sich balde,
62 
Wie im holden Zauberwalde
63 
Voller goldnen Früchte beugen.
 
64 
Was wir fühlen, was wir schauen
65 
In dem Land der höchsten Wonne,
66 
Dieser Boden, diese Sonne,
67 
Locket auch die besten Frauen;
68 
Und der Hauch der lieben Musen
69 
Weckt des Mädchens zarten Busen,
70 
Stimmt die Kehle zum Gesange,
71 
Und mit schöngefärbter Wange
72 
Singet sie schon würd’ge Lieder,
73 
Setzt sich zu den Schwestern nieder
74 
Und es singt die schöne Kette,
75 
Zart und zärter, um die Wette.
 
76 
Doch die eine
77 
Geht alleine
78 
Bey den Buchen,
79 
Unter Linden,
80 
Dort zu suchen,
81 
Dort zu finden
82 
Was im stillen Myrrtenhaine
83 
Amor schalkisch ihr entwendet,
84 
Ihres Herzens holde Stille,
85 
Ihres Busens erste Fülle,
86 
Und sie träget in die grünen
 
87 
Schattenwälder,
88 
Was die Männer nicht verdienen,
89 
Ihre lieblichen Gefühle,
90 
Scheuet nicht des Tages Schwüle,
91 
Achtet nicht des Abends Kühle
92 
Und verliehrt sich in die Felder,
93 
Stöhrt sie nicht auf ihren Wegen,
94 
Muse geh ihr still entgegen.
 
95 
Doch was hör ich! Welch ein Schall
96 
Ueberbraus’t den Wasserfall?
97 
Sauset heftig durch den Hain?
98 
Welch ein Lärmen, welches Schreyn?
99 
Ist es möglich! seh ich recht?
100 
Ein verwegenes Geschlecht
101 
Dringt ins Heiligthum herein.
 
102 
Hier hervor
103 
Ströhmt ein Chor!
104 
Liebeswuth,
105 
Weinesgluth,
106 
Ras’t im Blick,
107 
Sträubt das Haar!
108 
Und die Schaar
 
109 
Mann und Weib –
110 
Tigerfell
111 
Schlägt umher –
112 
Ohne Scheu
113 
Zeigt den Leib,
114 
Und Metall
115 
Rauher Schall,
116 
Grellt ins Ohr,
117 
Wer sie hört
118 
Wird gestöhrt,
119 
Hier hervor
120 
Drängt das Chor,
121 
Alles flieht
122 
Wer sie sieht.
 
123 
Ach die Büsche sind geknickt!
124 
Ach die Blumen sind erstickt!
125 
Von den Sohlen dieser Brut,
126 
Wer begegnet ihrer Wuth?
 
127 
Brüder, lasst uns alles wagen,
128 
Eure reine Wange glüht.
129 
Phöbus hilft sie uns verjagen,
130 
Wenn er unsre Schmerzen sieht.
 
131 
Und uns Waffen
132 
Zu verschaffen,
133 
Schüttert er des Berges Wipfel,
134 
Und vom Gipfel
135 
Prasseln Steine,
136 
Durch die Haine.
137 
Brüder faßt sie mächtig auf!
138 
Schloßenregen
139 
Ströme dieser Brut entgegen!
140 
Und vertreib aus unsern milden,
141 
Himmelreinen Lustgefilden
142 
Diese Fremden, diese Wilden.
 
143 
Doch was seh ich!
144 
Ist es möglich?
145 
Unerträglich
146 
Fährt es mir durch alle Glieder,
147 
Und die Hand
148 
Sinket von dem Schwunge nieder.
149 
Ist es möglich!
150 
Keine Fremden!
151 
Unsre Brüder
152 
Zeigen ihnen selbst die Wege!
153 
O! die Frechen,
 
154 
Wie sie, mit den Klapperblechen,
155 
Selbst voraus im Tacte ziehn!
156 
Gute Brüder laßt uns fliehn.
 
157 
Doch ein Wort zu den verwegnen
158 
Ja, ein Wort soll euch begegnen
159 
Kräftig wie ein Donnerschlag.
160 
Worte sind des Dichters Waffen,
161 
Will der Gott sich Recht verschaffen,
162 
Folgen seine Pfeile nach.
 
163 
War es möglich eure hohe
164 
Götterwürde
165 
Zu vergessen!
166 
Ist der rohe
167 
Schwere Tyrsus keine Bürde,
168 
Für die Hand, auf zarten Saiten
169 
Nur gewöhnet hinzugleiten?
170 
Aus den klaren Wasserfällen,
171 
Aus den zarten Rieselwellen
172 
Tränket ihr
173 
Gar Silenens häßlich Thier.
174 
Es entweihet Aganippen
175 
Mit den rohen breiten Lippen,
 
176 
Stampft mit ungeschickten Füßen,
177 
Bis die Wellen trübe fließen.
 
178 
O! wie möcht ich gern mich täuschen;
179 
Aber Schmerzen füllt das Ohr,
180 
Aus dem keuschen,
181 
Heiligen Schatten
182 
Dringt verhasster Ton hervor.
183 
Wild Gelächter
184 
Statt der Liebe süßem Wahn!
185 
Weiber Hasser und Verächter
186 
Stimmen ein Triumphlied an.
187 
Nachtigal und Turtel fliehen
188 
Das so keusch erwärmte Nest,
189 
Und in wüthendem Orgien
190 
Hält der Faun die Nimphe fest.
191 
Hier wird ein Gewand zerrissen,
192 
Dem Genusse folgt der Spott,
193 
Und zu ihren frechen Küssen
194 
Leuchtet mit Verdruß der Gott.
 
195 
Ja ich sehe schon von weiten
196 
Wolkenzug und Dunst und Rauch.
197 
Nicht die Leyer nur hat Saiten
 
198 
Saiten hat der Bogen auch.
199 
Selbst den Busen des Verehrers
200 
Schüttert das gewaltge Nahn,
201 
Denn die Flamme des Verheerers
202 
Kündet ihn von weiten an
203 
O! vernehmt noch meine Stimme
204 
Meiner Liebe Bruderwort!
205 
Fliehet vor des Gottes Grimme,
206 
Eilt aus unsern Grenzen fort!
207 
Daß sie wieder heilig werde
208 
Lenkt hinweg den wilden Zug.
209 
Vielen Boden hat die Erde
210 
Und unheiligen genug.
211 
Uns umleuchten reine Sterne,
212 
Hier nur hat das edle Werth.
 
213 
Doch wenn ihr aus rauher Ferne
214 
Wieder einst zu uns begehrt,
215 
Wenn euch nichts so sehr beglücket,
216 
Als was ihr bey uns erprobt,
217 
Euch nicht mehr ein Spiel entzücket,
218 
Das die Schranken übertobt;
219 
Kommt als gute Pilger wieder,
220 
Steiget froh den Berg heran,
 
221 
Tief gefühlte Reuelieder
222 
Künden uns die Brüder an.
223 
Und ein neuer Kranz umwindet
224 
Eure Schläfe feyerlich.
225 
Wenn sich der Verirrte findet
226 
Freuen alle Götter sich.
227 
Schneller noch als Lethes Fluthen
228 
Um der Todten stilles Haus,
229 
Löscht der Liebe Kelch den Guten
230 
Jedes Fehls Erinnrung aus.
231 
Alles eilet euch entgegen
232 
Und ihr kommt verklärt heran,
233 
Und man fleht um euren Segen,
234 
Ihr gehört uns doppelt an!
235 
JUSTUS AMMAN.

Details zum Gedicht „Sängerwürde“

Anzahl Strophen
27
Anzahl Verse
235
Anzahl Wörter
979
Entstehungsjahr
1799
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

„Das Gedicht „Sängerwürde“ wurde von Johann Wolfgang von Goethe verfasst, einem der wichtigsten Vertreter der deutschen Literatur. Goethe wurde 1749 geboren und starb 1832, seine Schaffensphase umfasst also das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert, was ihn zur Epoche der Weimarer Klassik rechnet. Bei der ersten Lektüre des Gedichts fällt eine pathetische Tonsprache auf, die voller Natur- und Kultursymbole ist.

Inhaltlich handelt Das Gedicht von dem lyrischen Ich, das in seinem Freizeit- und Künstlerdasein durch die Natur streift und von den Musen inspiriert wird, zu dichten. Diese Lebensfreude und künstlerische Inspiritation, so wird erklärt, sind Geschenke des Gottes Apoll. Die künstlerische Tätigkeit wird als edel und rein dargestellt. Doch dann wird das friedliche Dasein des lyrischen Ichs durch eine Gruppe Störenfriede unterbrochen, die ins Heiligtum eindringen und die Harmonie stören. Das lyrische Ich verurteilt die Störenfriede für ihr respektloses Verhalten und ruft zur Verteidigung des Heiligtums auf. Doch letztendlich erkennt es, dass auch die Störenfriede seine Brüder sind.

Die Form des Gedichts ist sehr lang und besteht aus vielen Strophen, die wiederum aus unterschiedlich vielen Versen bestehen. Die Versform und das Reimschema variieren. Die Sprache ist erhoben und bildreich, voll von Anspielungen auf die antike Mythologie und die Natur, die als Ort der Ruhe und Inspiration idealisiert wird.

Im Laufe des Gedichts werden verschiedene Themen angesprochen: die Rolle des Künstlers und seine Berufung, die Inspiration durch die Musen und die Natur, die Störung dieser Harmonie durch respektlose Eindringlinge, und schließlich die Anerkennung, dass auch die Störenfriede zu der Gemeinschaft der Künstler gehören. Dabei zeigt sich das lyrische Ich im Laufe des Gedichts immer mehr als Pädagoge, der seine Mitmenschen belehrt und erzieht.“. Das Gedicht ist eine Huldigung an die Kunst und die Schönheit der Natur und zugleich ein Ausdruck des Widerstands gegen jegliche Form von Respektlosigkeit und Vulgarität. Insgesamt lässt sich „Sängerwürde“ als Expression des Goetheschen Künstler-Ideals lesen: des Dichters als Hüter der höchsten kulturellen Werte und Vermittler zwischen der göttlichen und der menschlichen Welt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Sängerwürde“ des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Im Jahr 1749 wurde Goethe in Frankfurt am Main geboren. Im Jahr 1799 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Tübingen. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Schriftsteller des Sturm und Drang waren zumeist junge Autoren, häufig unter 30 Jahre alt. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Goethe, Schiller und die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Richtungsweisend für die Literatur der Weimarer Klassik war die Französische Revolution. Menschen setzten sich dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Der Beginn der Weimarer Klassik ist im Jahr 1786 auszumachen. Die Epoche der Klassik endete im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Das Zentrum der Weimarer Klassik lag in Weimar. Oft wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Die Klassik geht von einer Erziehbarkeit des Individuums zum Guten aus. Ihr Bestreben ist die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Die Dichter der Klassik gingen davon aus, dass Gott den Menschen Vernunft und Gefühle gibt und die Menschen damit dem Leben einen Sinn geben. Der Mensch ist also von höheren Mächten bestimmt. Kennzeichnend ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Gefühl und Vernunft. Die Autoren haben in der Weimarer Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Schiller, Goethe, Wieland und Herder bildeten das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik. Es gab natürlich auch noch andere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das Gedicht besteht aus 235 Versen mit insgesamt 27 Strophen und umfasst dabei 979 Worte. Weitere Werke des Dichters Johann Wolfgang von Goethe sind „An den Schlaf“, „An den Selbstherscher“ und „An die Entfernte“. Zum Autor des Gedichtes „Sängerwürde“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.

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