Sylvester 1919 von Erich Mühsam

Auf den Kehricht, Jahr des Jammers!
Jahr des Fäulnis, auf den Mist! –
das des fluchgeschwungnen Hammers
stumpfer Block gewesen ist.
In das Dungloch der Historie,
wo der Glanz der Talmiglorie
ewigen Abscheus Rost zerfrißt!
 
Aus den Grüften tiefster Nöte
leuchtend stieg empor das Jahr,
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das dem Volk die Morgenröte
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nach des Schiffbruchs Ängsten war.
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Menschen, jubelnd mit Gesängen
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flutetet in frohem Drängen
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zu der Freiheit Hochaltar.
 
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Ach, der Freiheit rotes Laken
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war gestohlenes Ornat.
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Hinter holden Worten staken
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Meuchelmord und Volksverrat.
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Fromme Sehnsucht brach in Stücke.
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Aus den Trümmern hob in Tücke
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neu sich der geborstne Staat.
 
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Neunzehnhundertneunzehn, scheide!
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Wenig Liebe folgt dir nur.
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Ungezählte falsche Eide
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zeichnen deine Daseinsspur.
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Doch aus Grabgebeinen knöchern
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und aus dumpfen Kerkerlöchern
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dröhnt dir nach ein wahrer Schwur:
 
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Auf den Kehricht, Jahr der Schande!
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Und das neue trete vor!
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Aber keine Festgirlande
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schmücke ihm das Einfahrtstor.
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Eh wir wieder Fahnen schwenken,
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laßt uns erst an Rache denken.
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Dann das rote Tuch empor!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Sylvester 1919“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
35
Anzahl Wörter
158
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Erich Mühsam, ein deutscher Schriftsteller und Anarchist, der von 1878 bis 1934 lebte. Das Gedicht stammt aus dem Jahr 1919, einer turbulenten und schwierigen Zeit in der Geschichte Deutschlands, die direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weimarer Republik liegt.

Beim ersten Lesen fällt die deutliche Ablehnung und Verbitterung des lyrischen Ichs gegenüber dem vergangenen Jahr auf. Es wird sowohl auf politischer als auch auf persönlicher Ebene ein Gefühl der Unzufriedenheit und des Betrugs zum Ausdruck gebracht.

Im Inhalt spricht das lyrische Ich das Jahr 1919 als eine Zeit voller Unheil, Vertrauensbruch und Falschheit an. Es werden Bilder der Enttäuschung und des Zorns über falsche Versprechungen und Verrat gegenüber dem Volk verwendet. Trotz der Hoffnung, die das Jahr anfangs gebracht hatte, scheint es sich zu einem enttäuschenden Ende entwickelt zu haben. Das lyrische Ich ruft dazu auf, das alte Jahr in die dunkelste Ecke der Geschichte zu verbannen und Rache zu suchen, bevor es das neue Jahr begrüßt.

Form und Sprache des Gedichts zeigen die Fähigkeiten von Mühsam als scharfer Beobachter und Kritiker seiner Zeit. Jede Strophe besteht aus sieben Versen, was zur allgemeinen Struktur und Einheit des Gedichts beiträgt. Mühsam verwendet starke und emotionale Sprache, um seine Frustration und Enttäuschung auszudrücken. Die Verwendung von Begriffen wie „Fluch“, „Fäulnis“, „Mist“, „Abscheu“ und „Rache“ unterstreicht die negative Stimmung des Gedichts. Gleichzeitig drückt das lyrische Ich aber auch eine Hoffnung für die Zukunft aus, was sich in Versen wie „das neue trete vor“ und „Dann das rote Tuch empor“ zeigt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Sylvester 1919“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Erich Mühsam. Geboren wurde Mühsam im Jahr 1878 in Berlin. Das Gedicht ist im Jahr 1920 entstanden. Erschienen ist der Text in München. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Mühsam ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 35 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 158 Worte. Die Gedichte „Das Beispiel lebt“, „Das Volk der Denker“ und „Das Neue Deutschland“ sind weitere Werke des Autors Erich Mühsam. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Sylvester 1919“ weitere 57 Gedichte vor.

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