Streik von Paul Haller

Zwischen kahlen Mauern ringt im Bette
Eine Mutter mit den Sorgenstunden,
Wartet fiebernd auf des Sohnes Taler,
Auf die blanken, die er hart erschunden.
 
„Sterben, o wie selig! Aber leben,
Leben muß ich für den einz’gen Jungen,
Für den guten, der so oft des Abends
Meiner Not ein Hoffnungslied gesungen.“
 
Draußen schwillt die Straße von dem Rauschen
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Vieler Tritte. Dumpfe Männerstimmen
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Hört sie schwirren zwischen engen Gassen
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Und zu ihrem Fenster aufwärtsklimmen.
 
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Schwer und zornig schreitet’s auf der Stiege,
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Auf dem Gang, da tritt er in die Kammer:
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„Keine Taler, Mutter, keine Freude,
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Aber Hunger, Finsternis und Jammer!
 
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Streik! wir streiken auf der ganzen Rhede!“
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Weinend sinkt sie, von des Sohnes Armen
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Fest umwunden, in zerwühlte Kissen:
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„O mein Sohn, nun soll sich Gott erbarmen!
 
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Aber ich will fluchen deinen Freunden,
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Die der Frauen Leiden nie gelitten!“
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Und nun quält sie seine trotzige Seele
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Mit den mütterlichsten Liebesbitten,
 
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Bis er geht. Er sieht die Kampfgenossen
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Finster stehn und lauern. Sieht die andern
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Schüchtern unterm Schutz von hundert Helmen,
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Als Verfehmte auf die Arbeit wandern.
 
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„Mutter, kehrt er wieder, deine Tränen
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Können meine heiße Glut nicht dämpfen!
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Keinen Bissen will ich fürder essen,
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Doch mit meinen Brüdern laß mich kämpfen!
 
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Für die tausend Brüder laß uns leiden,
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Die noch kommen. Kämpfen, leiden, hoffen!
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Bis der letzte Pfeil vom Sorgenbogen
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Einer Mutter duldend Herz getroffen!“
 
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Sieh! die kaltgehärmten Hungeraugen
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Fühlt er da in rascher Glut erwarmen:
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„Kämpfe für die Brüder! mich laß friedlich
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Sterben hier in deinen Kindesarmen!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.8 KB)

Details zum Gedicht „Streik“

Autor
Paul Haller
Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
248
Entstehungsjahr
nach 1898
Epoche
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Streik“ stammt von Paul Haller, der von 1882 bis 1920 lebte. Dies lässt auf eine Entstehungszeit im beginnenden 20. Jahrhundert schließen, eine Zeit, in der Arbeiterbewegungen und Streiks keine Seltenheit waren.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht in zahlreichen Strophen aufgeteilt ist, die jeweils vier Verse enthalten, was eine stringente Erzählstruktur suggeriert.

Inhaltlich schildert das Gedicht eine dramatische Situation in einem Arbeiterhaushalt: Eine Mutter wartet ängstlich auf die Heimkehr ihres Sohnes und hofft auf die Einkünfte, die er durch seine Arbeit verdient. Als er schließlich nach Hause kommt, bringt er jedoch keine Taler mit, sondern die schlechte Nachricht, dass er streikt. Die Mutter ist verzweifelt, aber der Sohn bleibt standhaft und betont die Notwendigkeit des gemeinsamen Kämpfens seiner Arbeiterbrüder. Er zieht den möglichen Gewinn für die gesamte Arbeiterklasse dem kurzfristigen Überleben seiner Familie vor, während die Mutter, wohl gezeichnet von Hunger und Sorge, ihren Sohn zum Weitermachen ermutigt, bevor sie offenbar stirbt.

Das Gedicht nutzt sehr bildhafte und emotionale Sprache, um seine Botschaft zu übermitteln, und es schildert die Szene in lebendigem Detail. Die Worte „Hunger“, „Finsternis“ und „Jammer“ verdeutlichen die Not der Arbeiterfamilie, während „kämpfen“ und „leiden“ die Entschlossenheit und das Leid der streikenden Arbeiter hervorheben. In formaler Hinsicht zeigt sich Haller's Meisterschaft in der Nutzung des klassischen Vierzeilers, um eine komplexe und emotional aufgeladene Geschichte zu erzählen.

„Streik“ malt also ein düsteres Bild der Arbeitsbedingungen des frühen 20. Jahrhunderts, während es zugleich die Notwendigkeit von Arbeitskampf und Solidarität betont. Es ist ein nachdenklich stimmendes Werk, das zeigt, dass der Preis für grundlegende Rechte oft hoch ist und mit Opfern verbunden ist.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Streik“ ist Paul Haller. Haller wurde im Jahr 1882 in Rein bei Brugg geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1898 bis 1920 entstanden. Aarau ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Naturalismus zuordnen. Haller ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 248 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Weitere Werke des Dichters Paul Haller sind „An eine Sängerin“, „Augen“ und „Bei Morcote“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Streik“ weitere 65 Gedichte vor.

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