Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument von Joachim Ringelnatz
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Guten Abend, schöne Unbekannte! Es ist nachts halb zehn. |
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Würden Sie liebenswürdigerweise mit mir schlafen gehn? |
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Wer ich bin? – Sie meinen, wie ich heiße? |
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Liebes Kind, ich werde Sie belügen, |
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Denn ich schenke dir drei Pfund. |
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Denn ich küsse niemals auf den Mund. |
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Von uns beiden bin ich der Gescheitre. |
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Doch du darfst mich um drei weitre |
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Pfund betrügen. |
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Glaube mir, liebes Kind: |
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Wenn man einmal in Sansibar |
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Und in Tirol und im Gefängnis und in Kalkutta war, |
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Dann merkt man erst, daß man nicht weiß, wie sonderbar |
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Die Menschen sind. |
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Deine Ehre, zum Beispiel, ist nicht dasselbe |
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Wie bei Peter dem Großen L’honneur. – |
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Übrigens war ich – (Schenk mir das gelbe |
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Band!) – in Altona an der Elbe |
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Schaufensterdekorateur. – |
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Hast du das Tuten gehört? |
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Das ist Wilson Line. |
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Wie? Ich sei angetrunken? O nein, nein! Nein! |
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Ich bin völlig besoffen und hundsgefährlich geistesgestört. |
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Aber sechs Pfund sind immer ein Risiko wert. |
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Wie du mißtrauisch neben mir gehst! |
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Wart nur, ich erzähle dir schnurrige Sachen. |
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Ich weiß: Du wirst lachen. |
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Ich weiß: Daß sie dich auch traurig machen. |
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Obwohl du sie gar nicht verstehst. |
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Und auch ich – |
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Du wirst mir vertrauen, – später, in Hose und Hemd. |
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Mädchen wie du haben mir immer vertraut. |
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Ich bin etwas schief ins Leben gebaut. |
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Wo mir alles rätselvoll ist und fremd, |
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Da wohnt meine Mutter. – Quatsch! Ich bitte dich: Sei recht laut! |
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Ich bin eine alte Kommode. |
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Oft mit Tinte oder Rotwein begossen; |
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Manchmal mit Fußtritten geschlossen. |
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Der wird kichern, der nach meinem Tode |
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Mein Geheimfach entdeckt. – |
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Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt! |
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Das ist nun kein richtiger Scherz. |
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Ich bin auch nicht richtig froh. |
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Ich habe auch kein richtiges Herz. |
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Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk. |
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Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo |
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Im Muschelkalk. |
Details zum Gedicht „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“
Joachim Ringelnatz
11
47
295
1923
Moderne,
Expressionismus
Gedicht-Analyse
Dieses Gedicht stammt von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettisten, der berühmt für seine Poesie und Prosa mit spöttischem Humor und unkonventionellen Metaphern ist. Er lebte von 1883 bis 1934, daher kann das Gedicht ins späte 19. oder frühe 20. Jahrhundert zeitlich eingeordnet werden.
Das Gedicht kreiert den ersten Eindruck einer spontanen, rohen und teilweise komischen Konversation zwischen dem Sprecher und einer Frau. Durch das mutige Eingeständnis seiner eigenen Unzulänglichkeiten und die unbequeme Enthüllung seiner dunklen Seite, sorgt der Sprecher für eine Atmosphäre, die gleichzeitig verstörend und faszinierend ist.
Der Inhalt besteht daraus, dass das lyrische Ich eine Frau anspricht und ihr seine Wahrnehmung der Realität und seine Erfahrungen darstellt. Er zeigt sich eifersüchtig, zynisch und zweideutig - als jemand, der mehr über die Welt weiß, aber gleichzeitig seine tiefe Verwirrung und seine inneren Konflikte offenbart.
In seiner Form und Sprache ist das Gedicht spontan und ungewöhnlich. Es besteht aus Strophen unterschiedlicher Länge und die Verse variieren in Form und Rhythmus, was den impulsiven, unvorhersehbaren Charakter des Sprechers widerspiegelt. Die Sprache ist umgangssprachlich, mit einem düsteren Humor und es werden kontrastierende Bilder und Metaphern verwendet.
Da das Gedicht in der ersten Person geschrieben ist, gibt es das Gefühl einer direkten, persönlichen Konversation. Der Sprecher übernimmt dabei eine scheinbare Ehrlichkeit, aber seine Aussagen sind voller Widersprüche und gebrochenen Versprechen, was ihn zu einer unzuverlässigen Erzählerfigur macht.
In seiner Gesamtheit zeigt dieses Gedicht ein komplexes Porträt eines Menschen, der gleichzeitig das Vertrauen des anderen sucht und seine eigene Unzuverlässigkeit und Korruption einräumt. Diese komplexe Darstellung des menschlichen Charakters und der Interaktionen zwischen den Menschen sind typisch für Ringelnatz' Arbeit.
Weitere Informationen
Joachim Ringelnatz ist der Autor des Gedichtes „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“. Der Autor Joachim Ringelnatz wurde 1883 in Wurzen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1923 zurück. Der Erscheinungsort ist München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Bei dem Schriftsteller Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 295 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 47 Versen. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „7. August 1929“, „Abendgebet einer erkälteten Negerin“ und „Abermals in Zwickau“. Zum Autor des Gedichtes „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“ haben wir auf abi-pur.de weitere 560 Gedichte veröffentlicht.
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