Still lag das Meer von Marie Eugenie Delle Grazie

Still lag das Meer; die Höh’, die wir erklommen
Erstrahlte in des Abends satter Gluth
Und durch die Lüfte kam ein Hauch geschwommen,
Geheimnisvoll erregend Hirn und Blut –
Narzissenduft.... und vor mir die Ruinen
Tiber’s, d’rin Haß und Wollust einst gehaust,
Vom letzten Glanz des Tages mild beschienen,
Vom Donnergruß des Meer’s wie einst umbraust.
Noch leuchtet bunt der Mosaik der Fliesen,
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Noch hebt sich hier und dort ein Säulenstumpf,
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Zerschmettert, einem hingestürzten Riesen
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Vergleichbar; doch die Luft geht schwül und dumpf,
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Beklemmend – und ein räthselhaftes Grauen
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Beschlich mit einem Mal mir Herz und Sinn,
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Als gält’s, ein Fürchterliches hier zu schauen,
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Als trät’ der Schrecken plötzlich vor mich hin,
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Und lachte gell, und schüttelte die Locken,
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Und säh’ mich an, medusenhaft und stier,
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Daß in den Adern mir die Pulse stocken - -
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„Da bin ich, Menschlein – nun, Du riefst nach mir!“
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Doch still blieb es um mich; und träumend lenkte
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Die Schritte ich der Felsenbrüstung zu:
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Schon war die Sonn’ erloschen, Dämm’rung senkte
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Sich flaumig auf der Wogen glatte Ruh’;
 
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Geräuschlos strich die Möve hin und wieder,
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Und kühl umwehte mich des Abends Hauch,
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Aus einer Barke klangen Fischerlieder,
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Fern kräuselte sich eines Dampfers Rauch....
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Da hört’ ich hinter mir ein seltsam Rufen -
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So spöttisch-hell.... scheu ging mein Blick umher –
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Dann wandt’ ich mich – und vor mir, aus den Stufen
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Der Eremitenklause stand – Tiber!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Still lag das Meer“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
232
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Still lag das Meer“ wurde von Marie Eugenie Delle Grazie verfasst, einer österreichischen Dichterin, die von 1864 bis 1931 lebte. Der Text lässt sich zeitlich in die Epoche des Realismus positionieren, die von 1850 bis 1890 andauerte.

Das Gedicht hinterlässt auf den ersten Blick einen Eindruck von Mystik und dramatischem Aufbau. Es erschafft eine Atmosphäre der Ruhe und Stille, die jedoch stetig von einer unheimlichen, bedrohlichen Präsenz unterbrochen wird.

Inhaltlich ist das lyrische Ich in diesem Gedicht an einem Meer, genauer in der Nähe der Ruinen Tiber’s, wahrscheinlich ein Verweis auf die ehemalige Macht und Pracht des Römischen Reiches. Das Ich empfindet eine Ehrfurcht und gleichzeitig eine Beklemmung angesichts der Vergänglichkeit der einst mächtigen Konstruktionen, die nun in Ruinen liegen. Der Säulenstumpf, ein Symbol für Zerstörung und Vergänglichkeit, verursacht eine starke, fast schon paralysierende Angst. Dies könnte als Metapher für die Endlichkeit des menschlichen Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes gedeutet werden.

Formell handelt es sich bei diesem Gedicht um freie Verse, es gibt kein festes Reimschema. Dies verstärkt den Eindruck eines freien, unmittelbaren Gedankenflusses, der die Leser direkt in die Gefühlswelt des lyrischen Ichs hineinzieht. Die Sprache des Gedichts ist zugleich bildhaft und emotional. Die Wortwahl ist teils altertümlich, was zusammen mit den zahlreichen Adjektiven und den langen Versen eine malerische, fast schon filmische Atmosphäre erzeugt. Das Ende mit dem Auftauchen des Flusses Tiber, personifiziert und überraschend auftauchend, lässt das Gedicht mit einer aufregenden und mysteriösen Wendung enden. Es kann als symbolische Darstellung der Vergangenheit betrachtet werden, die sich auf einmal in der Gegenwart wiederfindet und das lyrische Ich mit der Realität der Vergänglichkeit konfrontiert.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Still lag das Meer“ ist Marie Eugenie Delle Grazie. Delle Grazie wurde im Jahr 1864 in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. Im Jahr 1892 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Bei Delle Grazie handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 2 Strophen und umfasst dabei 232 Worte. Die Dichterin Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für Gedichte wie „Atlantis“, „Beatrice Cenci“ und „Campo Santo“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Still lag das Meer“ weitere 71 Gedichte vor.

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