Sonst und Jetzt an Selmar von Susanne von Bandemer

Sonst weckte freundlich mich aus sanftem Schlummer
Dein süßer Kuß, zwar nur im Traum geküst;
Und frey von jedem Seelenkummer
Ward jeder junge Tag begrüst.
Jetzt, Selmar, flieht der Gott, den Mohn umkränzet,
Das Lager, wo mein Auge schlaflos weint,
Bis mir Aurora’s Purpur glänzet,
Und Phöbus wieder scheint.
 
Sonst schlug mein Herz vom seligsten Entzücken
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Bey jedem Brief, der Treue Unterpfand;
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Und, ach! mit wonnetrunk’nen Blicken
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Küßt’ ich die Züge deiner Hand.
 
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Jetzt beb’ ich angstvoll, wenn nach langem Sehnen
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Ein kurzes Briefchen meine Sorge stillt!
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Und zitternd brech’ ich unter Thränen,
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Der Treue sprechend Bild.
 
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Sonst, Selmar, wenn ein Gott dich zu mir brachte,
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Las ich in deinem seelenvollen Blick
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Dein Herz, das mich so selig machte,
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Und in ihm meines Daseins Glück. –
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Jetzt sieht dein Auge kalt und unbefangen
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Den bittern Kampf, den unbesiegten Schmerz,
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Die Thräne rollt von meinen Wangen
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Und rühret nicht dein Herz.
 
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Sonst sank ich dir, mein zweytes beßres Leben!
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In deinen Arm, an deine treue Brust;
 
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Ich fühlte deines Herzens Beben
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O, Gott! mit namenloser Lust. – –
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Jetzt seh’ ich dich, – ist’s möglich, es zu tragen? –
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Dem Felsen gleich, erkaltet neben mir,
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Dich rühren nicht mehr Selma’s Klagen,
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Gefühllos zürnst du ihr.
 
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Sonst fühlten wir, bey tausend Feuerküssen
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Das höchste Glück, für diese Welt zu groß!
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Durft’ ich in meinen Arm dich schließen,
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Dann pries ich göttergleich mein Loos!
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Jetzt drück’ ich dir, ach! übermannt von Schmerzen,
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Nur leis’ und schüchtern die geliebte Hand,
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Kein Gegendruck giebt Trost dem Herzen,
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Das alles in dir fand.
 
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Sonst – Nein, ich will – ich muß mich dir entziehen,
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Erinnerung, die grausam mich durchdringt!
 
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Ach! könnt’ ich vor mir selbst entfliehen,
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Hin wo mir ew’ge Ruhe winkt;
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Dann eilt’ ich Jetzt auf leichter Winde Flügel,
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O, Selmar! voll von meiner Liebe Pein,
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Hin auf Leukadens Felsenhügel,
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Dem Tode mich zu weihn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.6 KB)

Details zum Gedicht „Sonst und Jetzt an Selmar“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
308
Entstehungsjahr
1802
Epoche
Klassik,
Romantik

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht ist von der Dichterin Susanne von Bandemer, welche von 1751 bis 1828 lebte. Demnach ist es in der Epoche der Aufklärung und der deutschen Romantik einzuordnen.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht emotional und melancholisch, voller Verzweiflung und Schmerz. Das lyrische Ich erinnert sich an frühere Freuden und vergleicht sie mit ihrer aktuellen Situation.

Inhaltlich handelt es von einer Frau, die die Vergangenheit mit ihrem Liebhaber Selmar in ihrer jetzigen Situation hinterfragt. Früher weckte ihn ein süßer Kuss, und jeder Tag war frei von Kummer. Jetzt weint sie schlaflos, bis die Sonne aufgeht. Früher hat ihr Herz vor Freude getanzt, wenn sie einen Brief von Selmar erhielt, aber jetzt wird sie nervös, wenn sie nach langem Warten einen kurzen Brief erhält. Sie bespricht, wie Selmar's Blick, der sie einst voller Liebe ansah, jetzt kalt und unbekümmert ist. Sie fühlt sich nicht mehr geliebt, und es hat einen tiefen Schmerz in ihr Herz gebracht.

Analytisch gesehen, präsentiert das Gedicht eine moralische Fragestellung bei der das lyrische Ich eine Änderung von Liebe zu Entfremdung und Unempfindlichkeit von der geliebten Person beklagt.

Die Form des Gedichts besteht aus neun Strophen mit ungleicher Verteilung von Versen, was ein Anzeichen für eine freie poetische Form ist und typisch ist für das Zeitgeschehen der Epoche. Gleichzeitig ist das Gedicht reich an bildlicher Sprache, insbesondere der Einsatz von allegorischen und metaphorischen Elementen, welche Gefühle und Zustände darstellen.

Die Sprache des Gedichts ist schlicht und leicht verständlich, dennoch sind die Emotionen, die sie ausdrückt, tief und komplex, was eine typische Eigenschaft von romantischen Dichtungen ist. Das lyrische Ich nutzt verschiedene klassische Motive wie den süßen Kuss, den schlaflosen Schoß und den kalten Blick, um die emotionalen Höhen und Tiefen zu vermitteln, die sie durchlebt hat.

Abschließend ist zu sagen, dass Bandemers Gedicht eine emotionale Reise ist, die unerwiderte Liebe und Verlangen zeigt, aber auch die daraus resultierende Verzweiflung und Sehnsucht, die Situation zu entfliehen. Es ist eine tragische Darstellung des Schmerzes, den unerwiderte Liebe verursachen kann und wie dieser Kummer das lyrische Ich dazu treibt, über den Wunsch nach dem eigenen Tod zu fantasieren. Es ist eine tiefgehende Analyse der menschlichen Emotionen und des komplexen Wesens der Liebe.

Weitere Informationen

Susanne von Bandemer ist die Autorin des Gedichtes „Sonst und Jetzt an Selmar“. 1751 wurde Bandemer in Berlin geboren. 1802 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text den Epochen Klassik oder Romantik zugeordnet werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 9 Strophen und umfasst dabei 308 Worte. Weitere Werke der Dichterin Susanne von Bandemer sind „Am Sarkophage der Frau Anne Luise Karschinn, geborne Dürbach“, „An * * * bey der Übersendung einer Haarlocke“ und „An Elise Reichsgräfin zu S * * * L * * *“. Zur Autorin des Gedichtes „Sonst und Jetzt an Selmar“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 86 Gedichte vor.

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