Sommer 1898 von Frank Wedekind
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Ich, der alte Ahasver, |
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Habe große Eile, |
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Zu verscheuchen wünscht’ ich sehr |
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Ewig lange Weile: |
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Lenke wieder meine Bahn, |
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Endlos mir beschieden, |
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Nach dem alten Kanaan, |
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Das ich lang gemieden. |
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Mir ist in der Ferne die Kunde geworden, |
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Es käme gezogen ein Herrscher von Norden, |
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Da setzt es vielleicht auch für mich einen Orden. |
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Rückwärts schweift mein Auge matt, |
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Reuevoll umdustert, |
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Nach der alten Judenstadt, |
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Drin ich einst geschustert, |
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Derart, daß mich heute noch |
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Gottes Welt verachtet, |
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Weil ich nicht den Braten roch, |
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Eh’ das Lamm geschlachtet! |
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Wär’ Jener gekommen, wie Dieser kommt heute, |
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Mit stolzem Gepränge und großem Geleite, |
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Ich wäre moralisch gegangen nicht Pleite! |
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Jener ritt die Eselin, |
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Dieser den Trakhener, |
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Ehr’ und Glück trägt Dieser hin |
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Und sein Leben Jener. |
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Durch der Rede reiches Wort |
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Einzig sind die Beiden, |
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Und ihr Ziehn von Ort zu Ort |
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Nicht zu unterscheiden. |
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Was aber hilft tief mir im Busen die Reue! |
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Versagt’ ich denn jemals dem Herrscher die Treue?! – |
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Am Ende ereilt mich mein Unglück aufs neue! |
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Kam doch auch zu jener Zeit |
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Unter Kriegerscharen |
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In verbrämtem Purpurkleid |
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Einer angefahren! – – |
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Wenn der Andre nun auch jetzt |
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Beim Erlöserwerke |
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Sich vor meine Türe setzt, |
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Ohne daß ich’s merke?! |
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Von ihm stand kein Wort in der Zeitung geschrieben |
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Ich hätt’ ihn ja sonst von der Bank nicht vertrieben! |
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Und darin ist alles beim alten geblieben. – |
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Ja, wir Menschen stolpern blind |
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Durch des Lebens Enge. |
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Oft ist leer wie Schall und Wind |
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Größtes Festgepränge. |
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Irrt man ehrfurchtsvollen Blicks, |
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Ehr’ und Macht zu suchen, |
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Kommt der Mächt’ge hinterrücks, |
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Einen zu verfluchen! – |
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Es wechseln nicht nur an der Börse die Größen! – |
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Nichts bleibt uns, inmitten von Püffen und Stößen, |
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Als ununterbrochen das Haupt zu entblößen. |
Details zum Gedicht „Sommer 1898“
Frank Wedekind
10
55
282
1905
Moderne
Gedicht-Analyse
Der Autor dieses Gedichts ist Frank Wedekind, ein deutscher Dramatiker und Lyriker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Das Gedicht trägt den Titel „Sommer 1898“, was eine zeitliche Kontextualisierung in die wilhelminische Epoche Deutschlands ermöglicht.
Auf den ersten Blick sticht die melancholische und reflektierende Stimmung des Gedichts hervor. Es scheint ein Dialog des lyrischen Ichs mit sich selbst zu sein, in welchem es seine aktuellen Gefühle, Erfahrungen und Überlegungen ausdrückt.
Das lyrische Ich bezeichnet sich zu Beginn des Gedichts selbst als „alter Ahasver“. Ahasver ist eine Figur aus der jüdischen Mythologie, auch bekannt als der „ewige Jude“, der dazu verdammt ist, bis zum Ende der Welt ruhelos zu wandeln. Mit diesem Vergleich drückt das lyrische Ich seine momentane Unruhe, Einsamkeit und Sehnsucht nach Beständigkeit aus.
Im weiteren Verlauf spielt das Gedicht auf Ereignisse und Werte an, die eine symbolische Bedeutung haben. Durch den Vergleich zwischen „Jener“ (Christus) und „Dieser“ vermittelt das Gedicht eine Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft und eine Melancholie für vergangene Zeiten. Es legt dabei auch eine tiefe Reue des lyrischen Ichs offen, die daraus resultiert, den „wahren“ Herrscher nicht erkannt zu haben.
Formal folgt das Gedicht einem regelmäßigen Strophenbau. Jede Strophe enthält entweder drei oder acht Verse. Dies weist auf eine Struktur von Quartetten und Terzetten hin, wobei die Quartette in der traditionellen deutschen Dichtung oft als Ort für inhaltliche Kernthesen fungieren.
Die Sprache des Gedichts ist eingängig und weniger formal. Wedekind verwendet einfache Worte und Wendungen, was dem Gedicht eine gewisse Unmittelbarkeit und Authentizität verleiht.
Insgesamt handelt sich hierbei um ein nachdenkliches und zugleich kritisches Gedicht, das auf den ersten Blick eher melancholisch und pessimistisch erscheint. Bei genauerem Hinsehen zeigt es jedoch eine tiefere Bedeutung, die eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, Werten und dem eigenen Fehlverhalten fordert.
Weitere Informationen
Frank Wedekind ist der Autor des Gedichtes „Sommer 1898“. 1864 wurde Wedekind in Hannover geboren. Im Jahr 1905 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in München. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Wedekind handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 55 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 282 Worte. Weitere Werke des Dichters Frank Wedekind sind „Alte Liebe“, „Altes Lied“ und „Am Scheidewege“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Sommer 1898“ weitere 114 Gedichte vor.
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