So im Wandern von Richard Dehmel

Ein silbern klein Herze,
von Golde ein’n Ring,
die gab sie mir, als ich
wandern ging,
 
und that in das Herze
ihr Bild hinein;
so einsam der Morgen,
bin doch nicht allein ...
 
Arme Padde im Gleise,
10 
zerquetscht liegst du.
11 
Ich wandre meine Straße
12 
und wandre immer zu.
 
13 
Schon teilt sich der Nebel
14 
und schimmert die Welt,
15 
im Sonnenschein glitzert
16 
das Aehrenfeld;
 
17 
die Hummeln summen,
18 
die Lerchen klingen;
19 
die Birken wehen,
20 
die Zweige schwingen;
 
21 
die Pappeln, die schütteln
22 
die Blätter im Wind;
23 
sie flüstern, sie singen
24 
von meinem fernen Kind.
 
25 
Das Herzelein nehm’ich
26 
vom seidenen Band
27 
und leg’s in das Ringlein
28 
in meiner Hand,
 
29 
so schreit ich und schau
30 
als ein Zeichen mir’s an:
31 
so halt ich in Treuen
32 
ohn Ende Dich umfahn ...
 
33 
Was rennst, Meister Lampe?
34 
heut jag’ich nicht.
35 
Ich wandre, ich schreite,
36 
die Sonne sticht.
 
37 
In Dorfes Mitten
38 
der Friedhof sich hebt;
39 
wie wird’s gar kühl sich ruhen,
40 
wenn man mich einst begräbt!
 
41 
zwei weiße Rosen biegen
42 
ums Grabkreuz die Aest,
43 
drauf steht mein Nam geschrieben;
44 
bis der Regen ihn löscht ...
 
45 
Hinterm Kirchlein die Schenke
46 
heißt „Zu den 3 Linden“;
47 
da wird ein Ruheplätzchen
48 
sich auch wol noch finden!
 
49 
Ei Tausend, mein Schätzchen:
50 
so schmuck, und allein?
51 
Ei komm doch, rück näher;
52 
trink aus, schenk ein! –
 
53 
Na Schätzel, was weinst denn?
54 
Ja, die Welt ist hohl,
55 
die Welt ist ne Flasche:
56 
trink aus! leb wohl! –
 
57 
Was wackelt der Pfahl da?
58 
der ist wol betrunken!
59 
Ich wandre, ich schreite,
60 
in Sinnen versunken.
 
61 
Wir war’n ja so alleine;
62 
und sie, sie so weit!
63 
ich will ihr Alles sagen,
64 
bis sie mir verzeiht ...
 
65 
Und am End meiner Reise
66 
steht mein elterlich Haus,
67 
da schaut mein lieb Mütterchen
68 
am Fenster nach mir aus;
 
69 
und drinnen sitzt mein Vater,
70 
wie’n König auf sei’m Thron,
71 
und will’s nicht verraten,
72 
daß er wart’t auf sein’n Sohn ...
 
73 
Nun will ich nicht sinnen,
74 
ob man glücklich kann werden;
75 
der Himmel ist hoch,
76 
und wir leben auf Erden –
77 
schrumm!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.6 KB)

Details zum Gedicht „So im Wandern“

Anzahl Strophen
19
Anzahl Verse
77
Anzahl Wörter
331
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „So im Wandern“ stammt von Richard Dehmel, einem Dichter des Naturalismus und der frühen Moderne, der von 1863 bis 1920 lebte und arbeitete. Demzufolge kann das Gedicht zeitlich der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zugeordnet werden.

Auf den ersten Blick scheint es sich um einen lyrischen Bericht eines Wanderers oder Reisenden zu handeln, der sich auf einer physischen und zugleich emotionalen Reise befindet. Er sinniert über die Natur, die Vergänglichkeit des Lebens, die Einsamkeit sowie über die Liebe und die Heimat.

Im Gedicht erzählt das lyrische Ich von seiner Wanderung, begleitet von den Gaben einer geliebten Person - einem goldenen Ring und einem silbernen Herz mit ihrem Bild. Die gegensätzlichen Motive von Einsamkeit und Gemeinschaft, Liebe und Trennung sowie Tod und Leben ziehen sich durch die 19 Strophen. Es ist eine Reise der inneren Reflektion und emotionalen Auseinandersetzung.

In Bezug auf die Form und Sprache des Gedichtes ist zu erkennen, dass Dehmel einen relativ einfachen und flüssigen Stil nutzt. Jede Strophe besteht überwiegend aus vier Versen, wobei der Rhythmus und das Reimschema variieren. Auffällig ist, dass Dehmel durch die Verwendung alltäglicher und bodenständiger Sprache sowie einer unkomplizierten Grammatik eine besondere Nähe zum Leser*in aufbaut. Zudem wird eine bildhafte und detailreiche Erzählweise genutzt, die die Geschehnisse und Gefühle des lyrischen Ichs lebendig macht.

Zusammenfassend ist das Gedicht „So im Wandern“ eine bildhafte und emotionale Darstellung einer Reise, die weit über eine physische Wanderung hinausgeht. Es handelt sich vielmehr um eine innerliche Suche und Reflektion, die Themen wie Liebe, Einsamkeit und Tod in einer natürlichen Umgebung verhandelt. Hierbei verwendet Dehmel eine einfache aber eindrückliche Sprache, die die Lesenden in die Gedanken- und Gefühlswelt des lyrischen Ichs mitnimmt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „So im Wandern“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Geboren wurde Dehmel im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg. Das Gedicht ist im Jahr 1893 entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 331 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 77 Versen mit insgesamt 19 Strophen. Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „So im Wandern“ weitere 522 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Richard Dehmel (Infos zum Autor)

Zum Autor Richard Dehmel sind auf abi-pur.de 522 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.