Silvester von Kurt Tucholsky

Im niedern Zimmer
zieht sich der Pfeifenrauch in dicken, blauen Schwaden.
Der Nachtsturm rüttelt an den Fensterladen;
die brave Lampe leuchtet mir wie immer.
 
Wie stets glüht mir der rote Wein
im festen Glase mit dem Kaiserbilde;
ein stiller Wein – er mundet mir so milde –
ich träum ins Glas – was spiegelt sich darein?
 
Vier lange Jahre.
10 
Es hieß sich immer wieder, wieder ducken
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und schweigen und herunterschlucken.
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Der Mensch war Material und Heeresware.
 
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Das ist vorbei.
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Was ist uns nun geblieben?
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Wo ist das Deutschland, das wir ewig lieben?
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Wofür die Plackerei?
 
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Für nichts.
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Ich tue einen Zug – die Pfeife knastert –
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Was hat man uns gebetet und gepastert –
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Tag des Gerichts!
 
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Und wißt ihr, wer uns also traf?
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Der Koksbaron und der Monokelträger,
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das Bürgerlamm und der Karrierejäger –
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Ihr lagt im Schlaf.
 
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So wacht heut auf!
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Wir trugen unser Kreuz und jene ihre Orden –
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wir sind gestoßen und getreten worden:
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Muschkot, versauf!
 
29 
Vergeßt ihr das?
30 
Denkt stets daran, wie jene Alten sungen!
31 
Ich aber komm euch in Erinnerungen
32 
ein volles Glas –!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Silvester“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
171
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Silvester“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutschen Journalisten, Satiriker und Autor, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholskys Schaffen ist zeitlich der Weimarer Republik, also der zwischen den Weltkriegen liegenden Zeit in Deutschland, zuzuordnen.

Der erste Eindruck des Gedichts ist melancholisch und nostalgisch, aber auch anklagend und erbittert. Es eröffnet mit einer Szene, in der das lyrische Ich an Silvester alleine in einem Rauch erfüllten Raum sitzt und gegenüber Vergangenem reflektiert. Die Atmosphäre ist gedämpft und gedankenverloren. Im Laufe des Gedichts verdichten sich die Assoziationen zu vergangene, vermutlich kriegsbedingten, Zeiten und deren Auswirkungen auf das gegenwärtige Leben.

Inhaltlich drückt das lyrische Ich seine Unzufriedenheit und Bitterkeit über die vergangenen vier Jahre (vermutlich Bezüge zu den Weltkriegen) und die daraus resultierenden Verluste aus. Es ist deutlich enttäuscht über die Erkenntnis, dass der Mensch auf die Rolle eines bloßen Werkzeugs oder einer Ware reduziert wurde. Trotz der Plackerei und des erlittenen Leids scheint die aktuelle Situation immer noch ernüchternd. Die Schuld wird dabei der oberen Gesellschaftsschicht, repräsentiert durch den „Koksbaron“ und den „Monokelträger“, zugeschrieben.

Das Gedicht besteht aus acht gleich aufgebauten Vierzeiler-Strophen, die lyrische und einfache Sprache sorgt dafür, dass sich das Gedicht als leicht zugänglich, jedoch eindringlich erweist. Die Verwendung von alltäglichen Bildern und Realismus ermöglicht es dem Leser, sich mit der Situation zu identifizieren und die Botschaft des Gedichts tiefgreifender zu erfassen.

Zusammenfassend ist das Gedicht „Silvester“ ein kritisches und nachdenkliches Stück, das die Auswirkungen des Krieges auf die Gesellschaft und das Individuum betont und die Verantwortung der herrschenden Klassen anprangert.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Silvester“ ist Kurt Tucholsky. Geboren wurde Tucholsky im Jahr 1890 in Berlin. Im Jahr 1919 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Charlottenburg. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Inhaltlich wurden in der Literatur der Weimarer Republik häufig die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitet. Die geschichtlichen Einflüsse des Ersten Weltkrieges und der späteren Weimarer Republik sind die prägenden Faktoren dieser Epoche. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Zeit ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Man kann dies auch als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine nüchterne sowie einfache Alltagssprache zu verwenden. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil gehen, also ihr Heimatland verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Themen der Exilliteratur Deutschlands lassen sich zunächst in zwei Gruppen einteilen. Einige Schriftsteller fühlten sich in ihrer neuen Heimat nicht zu Hause, hatten Heimweh und wollten einfach in ihr altes Leben vor dem Nationalsozialismus zurückkehren. Oftmals konnten sie im Ausland nicht mehr ihrer Tätigkeit als Schriftsteller nachgehen, da sie nur in Deutsch schreiben konnten, was im Ausland niemand verstand. Heimweh und ihre Liebe zum Mutterland sind die Themen in ihren Werken. Die anderen Schriftsteller wollten sich gegen Nazideutschland wehren. Man wollte zum einen die Welt über die Grausamkeiten in Deutschland aufklären. Zum anderen aber auch den Widerstand unterstützen. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Bertolt Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Flugblätter und Radioreden der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten zu erwähnen. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 171 Worte. Die Gedichte „Also wat nu – ja oder ja?“, „An Lukianos“ und „An Peter Panter“ sind weitere Werke des Autors Kurt Tucholsky. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Silvester“ weitere 136 Gedichte vor.

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