Sexuelle Aufklärung von Kurt Tucholsky

Tritt ein, mein Sohn, in dieses Varieté!
Die heiligen Hallen füllt ein lieblich Odium
von Rauchtabak, Parfums und Eßbüfett.
Die blonde Emmy tänzelt auf das Podium,
der erste und der einzige Geiger schmiert „Kollodium“
auf seine Fiedel für das hohe C …
So blieb es, und so ists seit dreißig Jahren –
drum ist dein alter Vater mit dir hergefahren.
 
Sieh jenes Mädchen! Erster Jugendblüte
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leichtrosa Schimmer ziert das reizende Gesicht.
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So war sie schon, als ich mich noch um sie bemühte,
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und wahrlich: ich blamiert mich nicht!
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Siehst du sie jetzt, wie sie voll Scham erglühte?
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Was flüstert sie? „Det die de Motten kriecht …!“
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Wie klingt mir dieser Wahlspruch doch vertraut
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aus jener Zeit, da ich den Referendar gebaut!
 
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Sei mir gegrüßt, du meine Tugendlilie,
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du altes Flitterkleid, du Tamburin!
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Nimm du sie hin, mein Sohn – es bleibt in der Familie –
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und lern bei ihr: es gibt nur ein Berlin!
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Nun aber spitz die Ohren, denn gleich singt Ottilie
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ihr Lieblingslied vom kleinen Zeppeliihn …
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Kriegst du sie nicht, soll dich der Teufel holen!
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Verhalt dich brav – und damit Gott befohlen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.9 KB)

Details zum Gedicht „Sexuelle Aufklärung“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
179
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Sexuelle Aufklärung“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutsch-jüdischen Journalisten, Satiriker und Schriftsteller, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholsky war ein bedeutender Vertreter der Weimarer Republik, und dieses Gedicht kann daher in diese Zeitperiode eingeordnet werden, insbesondere da es in einen Kontext sexueller Liberalisierung und gesellschaftlichen Umbruchs in Europa passt.

Der erste Eindruck des Gedichts wirkt humorvoll und satirisch, geprägt durch seine scheinbar leichte Darstellung einer „Sexualaufklärung“ in einem Varieté-Theater.

Inhaltlich zeigt das Gedicht einen Vater, der seinen Sohn in ein Varieté-Theater mitnimmt, um ihm verschiedene Aspekte des Lebens und der Sexualität nahezubringen. Er stellt dem Jungen einige Frauen vor, mit denen er früher einmal geliebäugelt hat, und gibt einen nostalgischen und scherzhaften Blick auf seine eigene Jugend und Erfahrungen.

Die Aussage des lyrischen Ichs könnte als eine Ebene der Gesellschaftskritik interpretiert werden: Die „Sexuelle Aufklärung“ findet hier auf einem vergnüglichen, vielleicht auch als frivol geltenden Schauplatz statt – das Varieté. Daher kann man interpretieren, dass Tucholsky hier die Normen und Werte der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit satirisch hinterfragt.

Das Gedicht ist, was die Form angeht, in drei gleichlange Strophen mit jeweils acht Versen unterteilt. Es kommt ohne ein festes Reimschema aus, was den leicht scherzenden Ton des Gedichts unterstreicht. Die Sprache ist umgangssprachlich und spielt humorvoll mit Berliner Dialekt, was den lesenden Hörer in die Atmosphäre des Varieté-Theaters eintauchen lässt. Bemerkenswert ist auch die wiederholte direkte Ansprache an den Sohn („mein Sohn“, „mein Sohn“), die das Gedicht persönlich und intim macht.

Insgesamt kann das Gedicht als eine humorvolle, scharfsinnige Kritik an der Prüderie der damaligen Gesellschaft gelesen werden, die sich hinter einer aufgeklärten und liberalen Fassade verbarg.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Sexuelle Aufklärung“ des Autors Kurt Tucholsky. Der Autor Kurt Tucholsky wurde 1890 in Berlin geboren. Im Jahr 1919 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Charlottenburg. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Der Schriftsteller Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Die wichtigsten geschichtlichen Einflüsse auf die Literatur der Weimarer Republik waren der Erste Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 andauerte, und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Die Neue Sachlichkeit in der Literatur der Weimarer Republik ist von distanzierter Betrachtung der Welt und Nüchternheit gekennzeichnet und politisch geprägt. Es wurde eine alltägliche Sprache verwendet um mit den Texten so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Jahr 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. Daraufhin flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland sind typisch für diese Epoche der Literatur. Anders als andere Epochen der Literatur, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 179 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 24 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Die Gedichte „Also wat nu – ja oder ja?“, „An Lukianos“ und „An Peter Panter“ sind weitere Werke des Autors Kurt Tucholsky. Zum Autor des Gedichtes „Sexuelle Aufklärung“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

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