Selbstbetrug von Johann Wolfgang von Goethe

Der Vorhang schwebet hin und her
Bei meiner Nachbarin.
Gewiß, sie lauschet überquer,
Ob ich zu Hause bin,
 
Und ob der eifersücht’ge Groll,
Den ich am Tag gehegt,
Sich, wie er nun auf immer soll,
Im tiefen Herzen regt.
 
Doch leider hat das schöne Kind
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Dergleichen nicht gefühlt.
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Ich seh’, es ist der Abendwind
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Der mit dem Vorhang spielt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Selbstbetrug“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
12
Anzahl Wörter
60
Entstehungsjahr
1827
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Selbstbetrug“ wurde von Johann Wolfgang von Goethe verfasst, einem der bedeutendsten Dichter der deutschen Literatur. Goethe lebte vom 28. August 1749 bis zum 22. März 1832, daher kann das Gedicht dem Zeitalter der Weimarer Klassik zugeordnet werden, welche von 1786 bis 1832 andauerte.

Auf den ersten Blick scheint es sich hier um ein ambivalentes Gedicht zu handeln, das die Themen Verlangen, Eifersucht und Täuschung oder Selbsttäuschung behandelt.

Inhaltlich handelt das lyrische Ich von seiner Nachbarin und den Gefühlen, die er für sie hegt. Er beobachtet den Vorhang, der bei ihr hin und her schwebt, und spekuliert, dass sie zuhört, ob er zu Hause ist. Er spricht von seiner eifersüchtigen Wut, die er den ganzen Tag über gepflegt hat, und hofft, dass sie dieselben Gefühle in ihrem Herzen hegt. Jedoch stellt sich heraus, dass dies nur Wunschdenken ist, den in Wahrheit bewegt der Abendwind den Vorhang der Dame.

Durch das Gedicht hindurch erleben wir hier eine Art Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der Nachbarin, welches aber letztlich in die Ernüchterung mündet, dass diese Sehnsucht nicht erwidert wird.

Formal besteht das Gedicht aus drei Strophen zu je vier Versen, im klassischen Versmaß geschrieben. Die Sprache des Gedichts ist typisch für Goethe und seine Zeit: recht formell und kunstvoll, voller Bildsprache und Metaphern, um die Emotionen und Gedanken des lyrischen Ichs zu vermitteln.

Mit dem Vorhang, der „hin und her schwebet“, erzeugt Goethe eine beobachtende, fast voyeuristische Atmosphäre, die das Thema des unausgesprochenen Begehrens verstärkt. Gleichzeitig lässt das ohnmächtige Spiel des Vorhangs im Wind das lyrische Ich hilflos und sehnsüchtig zurück.

Die enttäuschten Hoffnungen des lyrischen Ichs werden deutlich, als es erkennt, dass nicht die Zuneigung der Nachbarin, sondern lediglich der Abendwind den Vorhang in Bewegung bringt. Dadurch wird das zentrale Thema des Gedichts verdeutlicht: Der Mensch neigt dazu, sich Situationen so zurechtzulegen, wie er sie gerne hätte, auch wenn die Realität oft anders aussieht - ein Phänomen, das Goethe treffend als „Selbstbetrug“ bezeichnet.

Weitere Informationen

Johann Wolfgang von Goethe ist der Autor des Gedichtes „Selbstbetrug“. Im Jahr 1749 wurde Goethe in Frankfurt am Main geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1827 entstanden. Erschienen ist der Text in Stuttgart und Tübingen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Goethe ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um junge Autoren. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Goethe, Schiller und natürlich die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war geprägt durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Literarisches Zentrum und Ausgangspunkt der Weimarer Klassik (kurz auch oftmals einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die essenziellen Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik kennzeichnend. Während man im Sturm und Drang die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die Hauptvertreter der Klassik sind Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Einen künstlerischen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Arbeit gab es jedoch nur zwischen Schiller und Goethe.

Das Gedicht besteht aus 12 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 60 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Wolfgang von Goethe sind „Am 1. October 1797“, „Amytnas“ und „An Annetten“. Zum Autor des Gedichtes „Selbstbetrug“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 1618 Gedichte vor.

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