Seemannstreue von Joachim Ringelnatz

Nafikare necesse est.
Meine längste Braut war Alwine.
Ihrer blauen Augen Gelatine
Ist schon längst zerlaufen und verwest. –
Alwine sang so schön das Lied:
„Ein Jäger aus Kurpfalz“.
 
Wie Passatwind stand ihr der Humor.
– Sonntags morgens wurde sie bestattet
In der Heide, wo kein Bäumchen schattet,
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Und auch ihre Unschuld einst verlor.
 
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Donnerstags grub ich sie wieder aus.
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Da kamen mir schon ihre Ohrlappen
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So sonderbar vor.
 
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Freitags grub ich sie dann wieder ein.
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Niemand sah das in der stillen Heide. –
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Montags wieder aus. Von ihrem Kleide,
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Das man ihr ins Grab gegeben hatte,
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Schnitt ich einer Handbreit gelber Seide,
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Und die trägt mein Bruder als Krawatte. –
 
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Gruslig war’s: Bei dunklem oder feuchten
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Wetter fing Alwine an zu leuchten.
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Trotzdem parallel zu ihr verweilen
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Wollt ich ewiglich und immerdar.
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Bis sie schließlich an den weichen Teilen
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Schon ganz anders und ganz flüssig war.
 
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Aus. Ein. Aus; so grub ich viele Wochen.
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Doch es hat zuletzt zu schlecht gerochen.
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Und die Nase wurde blauer Saft,
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Wodrin lange Fadenwürmer krochen. –
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Nichts für ungut: das war ekelhaft. –
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Und zuletzt sind mir die schlüpfrigen Knochen
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Ausgeglitten und in lauter Stücke zerbrochen.
 
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Und so nahm ich Abschied von die Stücke.
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Ging mit einem Schoner nach Iquique,
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Ohne jemals wieder ihr Gebein
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Auszugraben. Oder anzufassen.
 
37 
Denn man soll die Toten schlafen lassen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Seemannstreue“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
37
Anzahl Wörter
217
Entstehungsjahr
1924
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Seemannstreue“ wurde von Joachim Ringelnatz, einem deutschbaltischen Schriftsteller und Kabarettist arioscopo, geschrieben, der von 1883 bis 1934 lebte und damit der Epoche der Weimarer Republik zuzuordnen ist.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht trotz seiner morbiden und makabren Handlung durchaus humoristische Züge aufweist. Es erzählt die Geschichte einer Liebe, die über den Tod hinausgeht und zeigt sowohl die unbedingte Treue des lyrischen Ichs zu seiner „Braut“ Alwine, als auch eine schreckliche Obsession, die daraus resultiert.

Das lyrische Ich spricht von Alwine, die bereits verstorben ist und deren körperlicher Verfall in grotesken und ungeschönten Bildern beschrieben wird. Trotz dieses abschreckenden Bildes geht das lyrische Ich nicht von ihrer Grabstätte und gräbt sie regelmäßig wieder aus. Es zeigt sich eine Sehnsucht und eine Art von Treue, die über das Leben hinaus zu gehen scheinen. Gleichzeitig offenbart sich durch die Grabschändungen und die Beschreibung des Verfalls eine morbide Faszination und Obsession, die das lyrische Ich zu Alwine hat.

In Bezug auf die Form und die Sprache des Gedichts fällt auf, dass Ringelnatz sich keiner differenzierten und erhabenen Sprache bedient, sondern in einfacher und direkter Weise spricht. Das Gedicht ist in acht Strophen unterschiedlicher Länge gegliedert und folgt keinem festen Reimschema. Die Versmaße variieren, es dominieren jedoch jambische Füße. Durch die drastische und zugleich banale Diktion wird die morbide Thematik des Gedichts nochmals unterstrichen und gerät ins Absurde.

Insgesamt bietet „Seemannstreue“ durch die Verbindung von Treue, Liebe, Tod und Obsession eine vielschichtige Interpretationsgrundlage und zeigt eindrücklich die Fähigkeit Ringelnatz', auch ernste und unangenehme Themen auf eine Art und Weise zu präsentieren, die das Düstere mit Humor und Absurdität verbindet.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Seemannstreue“ ist Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Im Jahr 1924 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Der Schriftsteller Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 217 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 37 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz sind „...als eine Reihe von guten Tagen“, „7. August 1929“ und „Abendgebet einer erkälteten Negerin“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Seemannstreue“ weitere 560 Gedichte vor.

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