Seegespenst von Heinrich Heine

Ich aber lag am Rande des Schiffes,
Und schaute, träumenden Auges,
Hinab in das spiegelklare Wasser,
Und schaute tiefer und tiefer –
Bis tief, im Meeresgrunde,
Anfangs wie dämmernde Nebel,
Jedoch allmählig farbenbestimmter,
Kirchenkuppel und Thürme sich zeigten
Und endlich, sonnenklar, eine ganze Stadt,
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Alterthümlich niederländisch,
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Und menschenbelebt.
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Bedächtige Männer, schwarzbemäntelt,
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Mit weißen Halskrausen und Ehrenketten
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Und langen Degen und langen Gesichtern,
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Schreiten über den wimmelnden Marktplatz
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Nach dem treppenhohen Rathhaus’,
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Wo steinerne Kaiserbilder
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Wacht halten mit Zepter und Schwerdt.
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Unferne, vor langen Häuser-Reih’n
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Mit spiegelblanken Fenstern,
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Stehn pyramidisch beschnittene Linden,
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Und wandeln seidenrauschende Jungfrau’n,
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Ein gülden Band um den schlanken Leib,
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Die Blumengesichter sittsam umschlossen
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Von schwarzen, sammtnen Mützchen,
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Woraus die Lockenfülle hervordringt.
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Bunte Gesellen, in spanischer Tracht,
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Stolziren vorüber und nicken.
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Bejahrte Frauen,
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In braunen, verschollnen Gewändern,
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Gesangbuch und Rosenkranz in der Hand,
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Eilen, trippelnden Schritts,
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Nach dem großen Dome,
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Getrieben von Glockengeläute
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Und rauschendem Orgelton.
 
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Mich selbst ergreift des fernen Klangs
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Geheimnißvoller Schauer,
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Unendliches Sehnen, tiefe Wehmuth
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Beschleicht mein Herz,
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Mein kaum geheiltes Herz;
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Mir ist als würden seine Wunden
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Von lieben Lippen aufgeküßt,
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Und thäten wieder bluten,
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Heiße, rothe Tropfen,
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Die lang und langsam niederfall’n
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Auf ein altes Haus dort unten
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In der tiefen Meerstadt,
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Auf ein altes, hochgegiebeltes Haus,
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Das melancholisch menschenleer ist,
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Nur daß am untern Fenster
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Ein Mädchen sitzt,
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Den Kopf auf den Arm gestützt,
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Wie ein armes, vergessenes Kind –
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Und ich kenne dich armes, vergessenes Kind!
 
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So tief, so tief also
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Verstecktest du dich vor mir,
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Aus kindischer Laune,
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Und konntest nicht mehr herauf,
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Und saßest fremd unter fremden Leuten,
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Fünfhundert Jahre lang,
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Derweilen ich, die Seele voll Gram,
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Auf der ganzen Erde dich suchte,
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Und immer dich suchte,
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Du Immergeliebte,
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Du Längstverlorene,
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Du Endlichgefundene, –
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Ich hab’ dich gefunden und schaue wieder
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Dein süßes Gesicht,
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Die klugen, treuen Augen,
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Das liebe Lächeln –
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Und nimmer will ich dich wieder verlassen,
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Und ich komme hinab zu dir,
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Und mit ausgebreiteten Armen
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Stürz’ ich hinab an dein Herz –
 
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Aber zur rechten Zeit noch
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Ergriff mich beim Fuß der Capitän,
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Und zog mich vom Schiffsrand,
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Und rief, ärgerlich lachend:
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Doktor, sind Sie des Teufels?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.7 KB)

Details zum Gedicht „Seegespenst“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
79
Anzahl Wörter
350
Entstehungsjahr
1825–1826
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das vorgestellte Gedicht heißt „Seegespenst“ und stammt von Heinrich Heine, einem der bekanntesten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Es wurde in der Phase der Romantik geschrieben, welche grob von 1795 bis 1848 datiert wird.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht melancholisch und mysteriös, gepaart mit einer Spur von Nostalgie und Fernweh. Die detailreichen Beschreibungen und die atmosphärische Stimmung schaffen eine eindringliche und faszinierende Leseerfahrung.

Inhaltlich erzählt das Gedicht von der Vision einer untergegangenen Stadt, die das lyrische Ich im Wasser erblickt. Es handelt sich um eine nostalgische Wiedergabe einer alten niederländischen Stadt, die noch lebendig und detailliert mit ihren Bewohnern dargestellt wird. In Verbindung mit dieser Vision entstehen im lyrischen Ich heftige Gefühle von Wehmut und Sehnsucht. Insbesondere wird eine geliebte Frau oder ein Mädchen in der untergegangenen Stadt gesichtet, die das lyrische Ich wiedererkennt und vermisst hat. Das Ich ist sogar bereit, sich in die Tiefe zu stürzen, um die Geliebte wiederzutreffen.

Formal ist das Gedicht in vier Strophen gegliedert, die inhaltlich verschiedene Aspekte der Geschichte und Emotionen behandeln. In der ersten Strophe wird die Vision der Stadt detailliert beschrieben, in der zweiten Strophe die emotionalen Auswirkungen auf das lyrische Ich, in der dritten die Wiederentdeckung der Geliebten und in der vierten das fast tragische Ende, als das lyrische Ich von der Realität zurückgerissen wird.

Die Sprache des Gedichts zeichnet sich durch eine detaillierte und bildreiche Beschreibung aus, die eine lebendige Vorstellung der untergegangenen Stadt und ihrer Bewohner ermöglicht. Dabei bedient sich Heine typischer romantischer Motive wie Sehnsucht, Traum und Wehmut. Zudem wird durch den Wechsel zwischen realistischer Wahrnehmung und traumähnlicher Vision eine surrealistische Atmosphäre erzeugt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Seegespenst“ ein faszinierendes Beispiel für Heines Fähigkeit ist, komplexe Emotionen und Visionen in beeindruckenden und atmosphärischen Beschreibungen auszudrücken. Der verträumte Ton und die eindrucksvollen Bilder machen das Gedicht zu einem eindrucksvollen Beispiel romantischer Poesie.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Seegespenst“ des Autors Heinrich Heine. Im Jahr 1797 wurde Heine in Düsseldorf geboren. Im Jahr 1826 ist das Gedicht entstanden. Hamburg ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Heine ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 79 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 350 Worte. Der Dichter Heinrich Heine ist auch der Autor für Gedichte wie „Als ich, auf der Reise, zufällig“, „Alte Rose“ und „Altes Lied“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Seegespenst“ weitere 535 Gedichte vor.

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