Schön-Anne von Theodor Fontane

Schön-Anne strählt ihr schwarzes Haar,
Und hängt den Kopf in Trauer;
Sie spricht: „heut werd’ ich zwanzig Jahr
Und Jugend hat nicht Dauer;
Wenn ich ein Herz noch finden soll,
Recht wie mein eignes liebevoll,
So muß ich’s balde finden.“
 
Der Tag ist um; neugierig-bang
Legt Anne sich die Karten:
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„Ein Jahr noch!“ ach, es ist so lang,
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Bis über’s Jahr zu warten;
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Sie seufzet: „wär’ erst wieder Mai,
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Nicht eher athm’ ich froh und frei,
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Bis ich ein Herz gefunden.“
 
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Das Jahr ist um, der Mai ist da
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Mit seinen Blumen allen,
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Wohl mochte Manchem, der sie sah,
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Die hübsche Dirn’ gefallen;
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Doch Anne war ein Waisenkind,
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Und wo nicht Hof und Truhe sind,
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Da hat die Lieb’ ein Ende.
 
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Das Jahr ist um, und Anne spricht:
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„Gott, diese Herzensleere
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Trag ich geduldig länger nicht,
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Und kostet’s Ruf und Ehre;
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Die Eltern hab ich kaum gekannt,
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Niemals ein Herze mein genannt,
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Ich will ein Herz besitzen.
 
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Und als der Sonntag Abend kam
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Da ging sie hin zum Tanze,
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Sie fragte nichts nach Schand’ und Scham,
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Und nichts nach ihrem Kranze, –
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Sie suchte sich den Hübsch’sten aus,
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Und nahm ihn keck mit sich nach Haus; –
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Es war ihr fester Wille.
 
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„Ich hab ein Recht!“ der eitle Wahn
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Ließ keinen Spott sie scheuen,
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Sie sprach: „ich weiß, was ich gethan,
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Und nimmer soll’s mich reuen;
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Was mir das Leben schuldig ist,
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Das soll mir nun in kurzer Frist
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Mein eigen Kind bezahlen.“
 
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2.
 
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Und über’s Dorf ging Jahr um Jahr,
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Aufschoß manch schlanke Tanne,
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Sie aber, die „Schön-Anne“ war,
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Heißt lang nun „Mutter Anne“;
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Jetzt, wenn im Krug brav Tänzer sind,
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Geht schon der schönen Anne Kind,
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Im Sonntagsschmuck zu Tanze.
 
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Was weint die Mutter Anne so,
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Und stützt den Kopf in Sorgen?
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Schlägt ihr das Mutterherz nicht froh
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An jedem neuen Morgen?
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Die Tochter kommt vom Tanz nach Haus,
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Die Mutter spricht: „bliebst lange aus,
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Kind, halte Dich in Ehren!“
 
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Die Tochter zieht ein schnippsch Gesicht,
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Und spricht: „laß mich nur machen!
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Ich dächt, ich hielt’ auf Ehr und Pflicht,
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Und – kann mich selbst bewachen;
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Und wenn ich leicht und locker wär’,
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Es käm wohl nicht von ungefähr,
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Hat alles seine Gründe.
 
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„Du sagst mir oft, mein Vater sei
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Vor Jahren schon gestorben,
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Doch hat mir manche Neckerei
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Den Glauben dran verdorben;
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Wohl schuld ich dieses Leben Dir,
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Doch, weiß es Gott, oft wünsch ich mir,
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Ich wäre nicht geboren.“
 
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Sie spricht’s, ihr schwarzes Auge glüht,
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Die Thür ist zugeflogen,
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Und um die letzte Hoffnung sieht
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Arm-Anne sich betrogen;
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Sie seufzt: „das also ist der Lohn,
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Um den ich allen Spott und Hohn
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Mein Lebelang getragen!“
 
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Dann aber betet sie bewegt:
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„Gott, es ist mein Verschulden!
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Was uns Dein Wille auferlegt,
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Geziemet uns zu dulden; –
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Entsagen kann die wahre Lieb’,
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Es war die Selbstsucht die mich trieb,
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Und bitter muß ich’s büßen.“
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Schön-Anne“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
85
Anzahl Wörter
479
Entstehungsjahr
1851
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Schön-Anne“ wurde von Theodor Fontane, einem bedeutenden Deutschen Schriftsteller des Realismus, verfasst. Es entstammt dem späten 19. Jahrhundert und thematisiert archetypische Motive der Gesellschaft der damaligen Zeit, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Frau.

Das Gedicht erzählt die lebenslange Geschichte einer jungen Frau namens Anne, die angesichts des Älterwerdens verzweifelt nach Liebe sucht. Im ersten Teil des Gedichts wird sie als jung, schön und einsam dargestellt. Sie ist ungeduldig, sich zu verlieben und hat Angst, jung zu bleiben. Sie ist jedoch ein Waisenkind und hat weder Besitz noch Status, und diese Faktoren setzen sie unter Druck, schnell zu handeln.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wird Anne aus Verzweiflung nachts zu den Tänzen des Dorfes gehen, um einen Mann zu suchen. Sie kümmert sich nicht um ihren Ruf oder Ehre, sie will nur jemanden haben, der sie liebt. Schließlich wird sie schwanger und erhofft sich von der Geburt ihres Kindes eine neue Art von Liebe und Zufriedenheit.

Die Geschichte setzt sich fort mit Annes Leben als Mutter. Auf den ersten Blick scheint es, dass ihr Leben nun erfüllter ist, aber sie ist immer noch unzufrieden und macht sich Sorgen. Offenbar fühlt sie Rückschläge durch die Entscheidungen, die sie in ihrer Jugend getroffen hat - ihre Tochter zeigt ähnliche Tendenzen wie sie selbst in jungen Jahren und schätzt den Rat ihrer Mutter nicht. Das Leben, das Anne sich so sehnlichst gewünscht hat, entpuppt sich als hart und erfüllt von Reue und Enttäuschung.

Schließlich erkennt Anne in der letzten Strophe des Gedichts ihre Fehler und betet zu Gott um Vergebung. Sie erkennt ihre Selbstsucht an und bereut, dem Spott und der Schande, die sie ertragen hat, so viel Bedeutung beigemessen zu haben.

Formal gesehen besteht das Gedicht aus 13 Strophen mit jeweils 7 Versen. Fontane verwendet eine einfache, klare Sprache und zugängliche Bilder, was seine Gedichte leicht verständlich macht. Gleichzeitig verleiht er der romantischen Verzweiflung und den gesellschaftlichen Zwängen, die Anne fühlt, Tiefe und Nuance, indem er ihre Emotionen und Gedanken sorgfältig einfängt.

Insgesamt stellt „Schön-Anne“ von Theodor Fontane eine umfassende Untersuchung der Rolle der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft dar. Anne repräsentiert viele Frauen ihrer Zeit, die von einer eingeengten Gesellschaft geprägt und in ihrer Freiheit und Individualität unterdrückt wurden. Ihre Geschichte ist ein tiefschürfender Appell an das Mitgefühl und Verständnis des Lesers hinsichtlich der Verzweiflung und des Unglücklichseins, die viele Frauen während dieser Zeit fühlten.

Fontane gelingt es, ein einfaches ländliches Leben in seiner Komplexität darzustellen und uns daran zu erinnern, dass der Mensch, egal wie einfach sein Leben sein mag, immer tiefe Gefühle und Gedanken hat.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Schön-Anne“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Theodor Fontane. Der Autor Theodor Fontane wurde 1819 in Neuruppin geboren. Im Jahr 1851 ist das Gedicht entstanden. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Fontane ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 479 Wörter. Es baut sich aus 13 Strophen auf und besteht aus 85 Versen. Weitere Werke des Dichters Theodor Fontane sind „Alles still!“, „Am Jahrestag“ und „An Bettina“. Zum Autor des Gedichtes „Schön-Anne“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 214 Gedichte vor.

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