Rückblicke von Louise Otto-Peters

Wohl denk ich selig meiner Kindheit Tagen,
Da ich gespielt mit Vögeln und mit Blüten,
Wo in der Mutterarmen treuem Hüten
Mir alle Paradiese offen lagen.
 
Wo ich die ersten Bücher aufgeschlagen,
Mich drein versenkt mit ernsthaft stillem Brüten,
Bis meine bleichen Wangen heiß erglühten
Von meines Volkes schönen Heldensagen.
 
Dann sprach die Mutter: „Kind, es sind Gedichte.
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Vergiß es nicht: all’ was du hier gelesen,
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Zeigt dir das Leben oft in anderm Lichte.“
 
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Warum denn unterscheiden Sein und Wesen?
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Nein, Mutter – meinen Glauben nicht vernichte!
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Dann krankte ich und könnte nie genesen!
 
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II.
 
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Wehmütig hat sie dann das Haupt gesenket
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Und still gebetet: „Gott mag dich bewahren!
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Er sende dir aus seinen Engelscharen
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Den reinen Schutzgeist, der dich führt und lenket.
 
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Viel wirst geliebt du werden, viel gekränket,
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Viel Täuschung und viel Leid wirst du erfahren;
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Viel Thränen trüben dir den Blick, den klaren,
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Wenn sich dein Sehnen nicht noch selbst beschränket.“
 
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So gab sie sterbend mir den letzten Segen.
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Ich sank entsetzt vor der Entseelten nieder –
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Lang fühlt’ ich nichts als meines Jammers Regen.
 
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Da rieselten mir Schauer durch die Glieder:
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Soll ich nicht mit in deinen Sarg mich legen,
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So laß mir meine Träume, meine Lieder.
 
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III.
 
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So laß mir meine Träume, meine Lieder!
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Zur Gottheit selber hab’ ich so erhoben
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Mein heiß Gebet im brünstigen Geloben:
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Was du mir gabst, das lasse ich nicht wieder!
 
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So träumt ich denn, es fielen Rosen nieder,
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Die sich zu einer holden Kette woben –
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Und darauf schien ein Sonnenglanz von oben
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Und aus den Rosen wurden Sternenglieder.
 
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Das war der Liebe göttlich süßes Träumen
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Mit seinen Wonnen, seinem Glühen, Sehnen,
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Das bis hinauf drang zu des Himmels Räumen.
 
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Im Aether dort erglänzten heil’ge Thränen,
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Wie Tauesperlen oft die Rasen säumen,
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So mochten sie sich an die Sterne lehnen.
 
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IV.
 
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Doch kühnres Träumen mächtig mich erfaßte,
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Der ganzen Menschheit mich dahin zu geben,
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Als Opfer sterben oder kämpfend leben,
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Daß ich von Not und Druck sie mit entlaste.
 
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O wie ich zürnend ihre Feinde haßte!
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Wie ich empor mich rang mit kühnem Streben,
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Wie ich der Freiheit Banner wollte heben,
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Ob es auch für die schwache Hand nicht paßte!
 
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Begeistrung war in diesen Träumen allen,
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Und mehr als das; es war ein stetig Trachten
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Nur vorwärts durch die Nacht zum Licht zu wallen.
 
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Gefahr und Furcht, wie lernt ich sie verachten,
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Wie ließ ich meine Losung laut erschallen:
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Der Traum wird Wahrheit! wachet auf! – wir wachten.
 
60 
V.
 
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Wie ich geliebt, gestrebt, gekämpft, gelitten:
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Zu Liedern mußt es immer sich verklären,
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Und also mag es bis zum Tode währen –
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Das ist noch jetzt zu Gott mein brünstig Bitten.
 
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Noch jetzt, da schon das Alter kommt geschritten,
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Statt Rosen nur noch winken reife Aehren,
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Nicht kühne Wünsche mehr sich seufzend nähren,
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Der Phantasie die Flügel längst beschnitten.
 
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Noch jetzt will ich den Träumen nicht entsagen,
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Noch jetzt will ich im Kampfe nicht erlahmen,
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Eintreten noch für große Menschheitsfragen.
 
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Noch jetzt will ich für die, so nach mir kamen,
73 
Das Wort, das kühne, auszusprechen wagen:
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„Seid treu Euch selbst, wie ich getreu blieb!“ Amen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31.5 KB)

Details zum Gedicht „Rückblicke“

Anzahl Strophen
24
Anzahl Verse
74
Anzahl Wörter
511
Entstehungsjahr
1880-1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Rückblicke“ wurde von Louise Otto-Peters verfasst, einer bedeutenden deutschen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts.

Beim ersten Lesen fällt auf, wie persönlich das Gedicht ist. Otto-Peters reflektiert ihr eigenes Leben und ihre Entwicklung vom unschuldigen Kind zur starken und engagierten Frau. Sie benennt dabei positiv erwähnte Zeiten ihrer Kindheit, den Verlust der Mutter, sowie ihre Liebe und ihr Streben nach Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.

Zunächst berichtet sie über ihre behütete und paradiesische Kindheit, in der sie mit der Natur spielte, las und von der Mutter liebevoll behütet wurde. Als sie von der Mutter in die Dichtkunst und das Lesen eingeführt wird, sieht sie das Leben in einem anderen Licht. Ihre Mutter warnt sie jedoch vor den möglichen Enttäuschungen und Leiden, die das Leben mit sich bringt. Diese Warnung und die anschließende Trauer über den Tod der Mutter ziehen sich durch das Gedicht.

Trotz aller Hürden und der tiefen Trauer um den Verlust ihrer Mutter lässt Louise Otto-Peters ihre Träume nicht los. Sie behält ihre Lieder und Träume und nutzt diese Energie und Leuchtkraft, um für das Wohl der Menschheit und insbesondere der Frauen einzustehen. Sie träumt von Rosen, die zu Sternen werden, von himmlischer Liebe und Freiheit und von einem befreiten Dasein für alle Menschen.

Untersucht man die Sprache und die Form des Gedichts, zeigt sich, wie geschickt Otto-Peters mit traditionellen Versformen umgeht. Das Gedicht besteht aus gleichmäßig strukturierten Strophen mit meist vier Versen. Die sanfte, fast melodiöse Sprache, die häufige Verwendung von Personifikationen und Metaphern und die klare Bildhaftigkeit und Symbolik machen das Gedicht sehr lebendig und emotional ansprechend.

Zum Schluss besinnt sich das lyrische Ich auf die Gegenwart und die Zukunft. Trotz fortgeschrittenen Alters und körperlichen Verfalls bekräftigt Louise Otto-Peters ihren Willen, weiterhin zu träumen und für die Sache der Menschheit einzutreten. Sie fordert die nachfolgende Generation auf, sich selbst treu zu bleiben - ebenso wie sie es immer getan hat. Mit dem abschließenden „Amen“ bekräftigt sie ihre Ergebenheit in das Leben und ihre Bestimmung.

Zusammengefasst ist „Rückblicke“ ein eindrucksvolles Zeugnis von Louise Otto-Peters' Engagement für die Frauenbewegung und ihre Leidenschaft für Poesie und Literatur. Gleichzeitig ist es eine bewegende und persönliche Lebensbeichte, die von Liebe, Trauer, Verlust und unerschütterlicher Hoffnung erzählt.

Weitere Informationen

Louise Otto-Peters ist die Autorin des Gedichtes „Rückblicke“. Die Autorin Louise Otto-Peters wurde 1819 in Meißen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1893 zurück. Erschienen ist der Text in Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text den Epochen Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 74 Versen mit insgesamt 24 Strophen und umfasst dabei 511 Worte. Die Gedichte „Auf dem Kynast“, „Bergbau“ und „Berufung“ sind weitere Werke der Autorin Louise Otto-Peters. Zur Autorin des Gedichtes „Rückblicke“ haben wir auf abi-pur.de weitere 106 Gedichte veröffentlicht.

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