Ruth von Carl Streckfuß

idyllisch-episches Gedicht in vier Gesängen.

Schwer auf Israel lag Jehova’s zürnende Rechte,
Und es verschloß die Erde den Schooß; nur dürftige Halme
Keimten vereinzelt empor, kornleer vorreifend die Aehren.
Bald auch drohet’ und schlug in Schreckensgestaltung der Hunger,
Der im gewohnten Geleit mitbracht’ hinwürgende Seuchen.
Und ob stöhnend das Volk aufflehte zur Veste des Himmels,
Ob die Mutter das lechzende Kind von vertrockneten Brüsten
Jammernd zum Herrn aufhob – o Herzen zerreißender Anblick! –
Nicht doch milderte sich das strafende Zürnen Jehova’s.
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Viele des Volkes verließen darob die Gefilde der Heimath,
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So auch Eli Meléch mit seiner Gefährtin Nahemi,
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Mahlon und Chilion, den Söhnen. Zum Moabitischen Lande
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Zogen sie hin aus Bethlehem Juda, die Felder verlassend,
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Welche, belastet mit Fluch, treu waltendem Fleiß sich verschlossen.
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Ihnen nun wandte der Herr mitleidig den strahlenden Blick zu,
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Welcher die Nacht aufklärt, und machte die Fremde zur Heimath;
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Denn wo die Lieb’ erblüht, lacht vaterländischer Himmel.
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Und die trefflichen Söhn’, heimführten als treffliche Hausfrau’n
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Hochbeglückt, sie ein liebliches Paar Moabitischer Töchter,
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Also glitten die Monden dahin, wie die Lüfte des Maitags,
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Bis der Herrscher des Alls, der, immer und ewiglich Einer,
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Durch den Wechsel erzieht die Erschaffnen zu höherem Daseyn,
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Sprach: des Glückes genug! – Und er sandte den Todes-Engel,
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Daß er Eli Meléch heimführ’ und die rüstigen Söhne.
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Jammernd erstöhnte Nahemi, und jammernd erstöhnten die Töchter,
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Blind unerforschlichem Schluß, der am Grabe verblichner Geliebten,
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Weckt’ in der Greisin Brust die entschlummerte Liebe zur Heimath,
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Daß sich die Liebe bewähr’ und die höchste Lieb’ ihr entsprieße.
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Einstens berief sie Arpa und Ruth und sprach zu den Töchtern:
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Segn’ euch der Herr mein Gott und bescheer’ euch Tröstung und Frieden,
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Denn ihr thatet Gutes an mir und meinen Geliebten,
32 
Bis sie der Engel des Tod’s abrief. Mit kindlicher Liebe
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Stützt ihr, selber gebeugt, seitem die verwaisete Mutter,
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Achtet, obwohl noch jung und blühend, wie Rosen des Frühlings,
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Nicht anlockender Freuden der Welt und weilt bei der Schwieger,
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Hemmt, mich erblickend, den Laut der einsam tönenden Klage
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Und den bitteren Strom hinrollender Wittwen-Zähren,
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Daß nicht der Mutter Leid sich vermehr’ im Leide der Töchter;
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Darum segn’ euch der Herr und bescheer’ euch Tröstung und Frieden.
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Darum fleh’ ich zu ihm, mir, wenn im Tode mein Aug’ einst
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Bricht, es von eurer Hand, ihr Geliebten, verschließen zu lassen.
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Doch hier ist’s mir so öd’ und so leer, denn jegliches Plätzchen
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Zeigt mir der Theuren Verlust, die vor mir hingingen zur Heimath.
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Dort kniet’ Eli Meléch, aufflehend zum Himmel beim Frühroth;
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Dort, wo das Bett’ einst stand, dort seh’ ich im Krampfe des Todes
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Meinen Chilion stets, dort meinen verscheidenden Mahlon,
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Und von Neuem erfaßt Sehnsucht und zerreißender Schmerz mich.
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Ihr auch, denk’ ich, vermißt in verödeter Hütte die Gatten,
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Wie mir der Kummer bezeugt, der bekämpfte, doch nimmer besiegte;
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Darum wär’ es Euch gut, dies Unglücks-Land zu verlassen.
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Heim nach Bethlehem zieht mich das Herz, daß da, wo den ersten
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Strahl mein Aug’ einsog, es sich einst beim letzten verdunkle.
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Dort auch leben mir viel treuliebende Jugendgenossen,
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Welche des Lebens schönere Zeit in trauten Gesprächen,
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Manches erblichene Bild auffrischend, mir wieder erneuern,
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Und was ihr Liebes gethan an mir, euch liebend vergelten.
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Möchtet ihr also mit mir hinziehn nach Bethlehem Juda?
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Sagt freimüthig mir denn und wahr des Herzens Bedünken.
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Sprach’s und mit fröhlicher Eil rief Ruth: Wie das Herz dir gebietet,
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Wandl’, ich wandle mit dir, und trennen soll uns der Tod nur! –
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Und mit schweigendem Dank küßt’ auf die Stirn sie Nahemi.
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Aber Arpa begann, von ermunternder Frage gemahnt erst,
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Leiseres zögerndes Lauts, erdwärts hinsenkend die Blicke:
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Mir ist lieb mein heimisches Land, nicht will ich’s verbergen,
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Aber lieber doch Sie, die meinen Geliebten geboren.
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Darum wandl’ ich mit dir, und trennen soll uns der Tod nur.
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Siehst du aber mein Auge bethränt beim Schmerze des Abschieds,
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Zürne darob mir nicht, und liebe darob mich nicht minder.
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Schnell ist der Arme zur Reise bereit – und eilendes Fluges
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Brachte die Zeit daher, ersehnt und gefürchtet, den Abschied;
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Denn es trennet der Mensch sich schwer von vertrauter Gewohnheit
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Und, zuschreitend dem Bessern, verläßt er das Schlimmre mit Wehmuth.
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Doch vor Allen ergriff unsäglicher Schmerz dich, o Arpa!
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Kaum dich zu trennen vermögend, verweiltest du noch in dem Zimmer,
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Blicktest jedes Geräth noch an, und jegliches Plätzchen
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Sprach so traulich dir zu und mahnte dich: Scheide von mir nicht!
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Und als endlich die Mutter dich rief, zur Eile dich mahnend,
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Schrittest du vor, trostlos, und zerrangst laut schluchzend die Hände,
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Achtetest nicht versammelter Freund’ Abschied und Ermuntrung,
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Wankendes Schritts fortschreitend, mit rastlos strömenden Thränen.
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Zwar auch Nahemi weinet’ und Ruth, die Freunde verlassend,
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Aber, Jene von Hoffnung gestärkt, und Diese von Liebe,
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Schieden sie, kräftiges Sinns, von segnenden Wünschen begleitet.
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Doch oft schaut’ auf Arpa Nahemi bedenklich und düster,
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Und als sie waren gelangt zum nahen Hügel, wo irrend
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Hier sich der Blick in der Ferne verlor, von Bergen umschlossen,
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Welche geheimnißvoll sich verhüllten in bläulichen Düften;
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Dort noch nah erschaute den eben verlassenen Wohnsitz,
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Und die Hütt’, aus grünem Gezweig vorragend, die Fenster
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Halb vom Laube verhüllt, doch frei das Dach und den Giebel,
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Siehe, da hemmte die Mutter den Schritt und sprach zu den Töchtern:
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Wohl bedenke der Mensch, was er thut. Er schreite nicht vorwärts,
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Eh’ er die Pfade geprüft und die Kraft vorsorgend gemessen.
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Oft wohl trübt Sehnsuch des Urtheils sichere Klarheit,
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Oft auch leitet uns irr des Verstandes klügelndes Forschen.
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Solcher nur spart sich die Reue, den, wenn vorwärts ihn das Herz zieht,
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Vorwärts auch zugleich der ruhig erwägende Geist ruft.
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Seht in die Ferne hinaus! Verworren und immer verworrner
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Zeigen die Bilder sich dort, je weiter das Auge dahinstreift.
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Dort im Gebüsche verbirgt sich der Pfad – durch lachende Fluren
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Führt er den Wandrer vielleicht; vielleicht durch sandige Steppen,
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Durch der Dornen Gewind dahin zum Rande des Abgrunds.
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Aber sehet aus Grün vorragend die freundliche Hütte,
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Euch von der Jugend an bekannt mit der ganzen Umgebung.
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Aus dem Rasen, dem Bach und des oft gegangenen Pfades
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Krümmung tönen vertraut euch Freundesstimmen entgegen.
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Dorten kennt ihr am Menschen, so wie das Gesicht, die Gesinnung,
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Und Vergangnes erhalten lebendig, die mit es erlebten.
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Ach, wer die Heimath flieht und den Kreis der Freunde der Jugend,
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Von der Erinnerung reißt er sich los, so die Gegenwart aufhellt,
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Wenn sich in trübe Nacht der Freude schönes Gestirn hüllt;
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Was ihm als deutliches Bild in ewig glänzenden Farben
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Hier vorschwebt, es verschmilzt in der Fern’ in verworrene Schatten.
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Darum begreif’ ich es wohl, daß Grauen euch faßt vor dem Fremden,
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Und dem Bekannten euch anfesseln die Bande der Liebe;
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Geht doch sträubend der Mensch aus trüb umnachtetem Leben
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Hin nach Abrahams Schooß zu unvergänglichen Freuden.
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Zwar ist mein Bethlehem schön; dort grünen frischer die Auen
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Als ich sie je noch grünen gesehn; dort schlagen die Herzen
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Treu den Freunden und froh, Einfalt sich bewahrend und Reinheit.
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Und euch könnt’ aufblühn ein erneutes herrliches Glück dort.
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Aber gedächtet ihr dann der Heimath, so würd’ euch wie Mondschein
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Dünken das Glück in der Fremd’ und sehnen würde das Herz sich
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Nach der wärmenden Sonn’ am vaterländischen Himmel.
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Mir auch zernagte das Herz Vorwurf und bittere Reue.
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Darum jetzt, da es Zeit noch ist, befraget euch selber.
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Ruft auch mahnend das Herz mich zurücke nach Bethlehem Juda,
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Dennoch wohn’ ich lieber mit euch in der Hütte des Jammers,
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Als geschieden von euch, ihr Geliebten, im Hause des Glückes.
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Sprecht, und dafern ihr es wünscht, so kehren wir wieder nach Moab.
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Sprach’s und mit fröhlicher Eil rief Ruth: Wie das Herz dir gebietet,
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Wandl’, ich wandle mit dir, und trennen soll uns der Tod nur!
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Aber reichlicher floß der Zähren Strom von den Wangen,
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Dir, o Arpa! – es wogte die Brust, und mächtiges Kampfes,
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Rangen, besiegt und siegend, im Herzen dir Lieb’ und Liebe.
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Hier, ehrwürdig und mild, erscheint dir der liebenden Mutter
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Altergebeugte Gestalt – wie kannst du die Theure verlassen?
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Dort winkt, hold anlächelnd, das heimische Land und die Hütte,
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Und das vertraute Gehölz, und der Bach und der sonnige Hügel,
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Und sie solltest du fliehn und der Jugend süße Gewohnheit?
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Also stehst du und schwankst, hierhin dich wendend und dorthin,
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Suchst Antwort und die Red’ ersticken dir Thränen und Zweifel.
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Wieder begann Nahemi: Vom Himmel wird uns das Gute:
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Lasset uns flehen zum Herrn, der mein Gott ist und der eure,
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Und Er wird uns Weisheit verleihn, und gnädig uns leiten.
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Und sie sank auf die Knie dahin, ausstreckend die Hände
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Und aufhebend den Blick zur strahlenden Veste des Himmels,
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Und sie fleht’ inbrünstig empor, laut tönender Stimme:
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Herr, der in Moab herrscht und in Israel, Herrscher des Alls, Gott,
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Unerforschlicher, Gütiger, Großer, Allmächt’ger, Allweiser,
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Der du zum Leben mich riefst, der du im Leiden mich prüftest,
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Der du mich überall umfängst, in der Lüfte Gesäusel,
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Wie wenn, den Stolz hinschmetternd, vom Himmel Donnergeroll schallt;
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Der du die Herzen erkennst, und was war, und was ist, und was seyn wird,
155 
Blick’ herab, huldreich, und erhöre das Flehen der Armen.
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Siehe wir schwanken im Zweifel dahin und daher, wie das Rohr schwankt;
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Redlich siehst du und treu die Herzen, o Herzenerforscher,
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Aber der Geist, Zukünftigem blind, vorschauend in Nacht nur,
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Welche die kommende Stund’ einhüllt nach dem ewigen Rathschluß,
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Ringt ohnmächtig, den Pfad, der zum Rechten uns leite, zu kühren.
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Einen Strahl nur geuß ihm herab aus unendlichem Lichtquell,
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Oder erweck’ in der Brust huldreich die gebietende Stimm’ uns,
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Die zu erfreulichem Ziel hinweise die wankenden Schritte.
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Kindlich vertrauend auf dich, geloben wir alle zu wandeln,
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Wie sie gebieten uns wird, nicht weiter forschend noch klügelnd;
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Denn, eh den Saamen die Erde verbirgt, erkennst du die Frucht schon.
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Also rief sie, und flehte noch still, inbrünstiges Herzens,
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So auch thaten die Töchter, und göttliche Flammen ergossen
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Sich von oben herab, und erfüllten mit muthiger Kraft sie.
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Alle rafften sich auf, und Arpa, festeres Trittes,
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Nahte der Mutter sich nun, umschlang ihr den Nacken und drückte
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Ans hochschlagende Herz sie. „So lebe wohl denn auf ewig!“
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Sprach sie und wendete weg das Gesicht, denn ihr brachen die Zähren
174 
Unaufhaltsam hervor, und Schluchzen erstickte die Worte.
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Ruth dann, welche genaht, muthvoll und freudig entschlossen,
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Sprach, zu Nahemi gewandt: Dir folg’ ich, so will es Jehova,
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Welcher auch mein Gott ist, und nicht die Götter der Heiden!
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Aber Nahemi sprach: Heimkehrt die Schwägerin, kehret
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Heim zu ihrem Gott und dem Volk und den Jugendgenossen,
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Darum, gebeut nicht ein Andres unwiderstehlich das Herz dir,
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Kehre zurück auch du, und folge dem warnenden Beispiel.
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Aber in heiliger Gluth entzündet’, o Ruth, sich der Blick dir,
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Gluth, wie der Zorn anfacht, erregt vom innig Geliebten,
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Welcher unendlicher Lieb’, ein Ungläubiger, nimmer vertraun will;
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Und wie das Frühroth stralt, so stralten dir purpurn die Wangen.
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Rückwärts tratest du fest, ausstreckend zum Himmel die Rechte,
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Einer Begeisterten gleich, sich rüstend zu heiligem Eidschwur;
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Höher schien die Gestalt und völliger anzuschauen,
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Und hochwogendem Busen entscholl, wohllautend und kräftig,
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Dieses Wort in die Luft: Nicht davon sprich, daß ich solle
191 
Weg mich wenden von Dir. Wo Du hingehst, geh’ Ich hin,
192 
Ich auch verbleibe wo Du verbleibst. Dein Volk, es ist mein Volk,
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Dein Gott ist mein Gott; auch Ich will sterben, wo Du stirbst.
194 
Dies und das soll thun mir der Herr, so von Dir ich entweiche.
195 
Und Nahemi vernahm in den Worten die Stimme Jehova’s,
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Reicht’ ihr freudig die Hand, und beide schieden von Arpa,
197 
Die noch lang auf dem Hügel verzog, nachschauend den Beiden,
198 
Welche sich oft umkehrten und Grüß’ ihr winkten zum Hügel,
199 
Bis Gebüsche den Pfad einhüllt’ und die theuren Gestalten.
200 
Arpa wanderte nun mit langsamen Schritten nach Moab,
201 
Aber Jene zogen dahin nach Bethlehem Juda.
 
202 
_____________
 
203 
Zweiter Gesang.
 
204 
Heimkehr, leuchtender Stern im trübumnachteten Leben,
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Wie so herrlich erglänzt in des Herzens froher Erwartung
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Aus der Ferne dein Licht nach langen Jahren der Trennung.
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Herrlich zeigt’s, glanzreich, an unendlichem Reiz unerreichbar,
208 
Gleich paradiesischen Au’n, die geliebten Gefilde der Heimath;
209 
Zeigt huldvoll und getreu uns die fröhlichen Jugendgenossen,
210 
Stets unerkaltetes Sinnes, in Kraft und Lieb’ unverändert!
211 
Aber ach, wie Vielen erlosch in der Nähe dein Lichtstrahl,
212 
Welche zur freundlichern Ferne des Vaterhauses Entfremdung,
213 
Kindlicher Hoffnung und süßem Vertraun hohnsprechend, zurückstieß.
214 
Dein auch harrt, o Nahemi, der Schmerz. O hemme die Schritte,
215 
Die, wie beflügelt, dahin nach Bethlehem Juda dich tragen,
216 
Daß nachkeichend nur der Greisin die blühende Schnur folgt!
217 
Jetzt ist erklommen die Höh! Wie entflammt sich dein Auge, wie lächelt
218 
Selig dein Mund, wie streckt sich dein Arm dem freundlichen Thal zu!
219 
Dort noch, wie sonst, erhebt sich die Stadt. So ragten die Giebel
220 
Hinter den Bäumen hervor, wenn du, als blühende Jungfrau
221 
Mit der Heerd’ ausruhtest nach schwerem Erklimmen des Hügels
222 
Unter dem Baum, der, wie einst, süßkühlende Schatten verbreitet.
223 
Dort rinnt, sanft hinplätschernd, auf reinlichen Kieseln der Bach noch,
224 
Welcher die Heerd’ oft tränkt’, und Gesicht und Brust dir erfrischte.
225 
Schlängelnd windet, wie einst, durch blumige Wiesen der Pfad sich,
226 
Den du mit Eli Meléch so oft am Abend gewandelt,
227 
Von den hüpfenden Kindern umschwärmt, die jetzo das Grab birgt.
228 
Lange verlorest du dich, stillschweigend, in Wonn’ und in Wehmuth,
229 
Tief in Sinnen und Schaun, und zuletzt, aufseufzend, begannst du:
230 
Sieh, Ruth, dorten das Ziel. Sprich, ist nicht herrlich der Thalgrund?
231 
Sahst du so Liebliches je? So schön, ja schöner, als einstmals,
232 
Blüht dies Land, mein väterlich Land, mein theures, geliebtes.
233 
Diesen Gefilden glitt spurlos die enteilende Zeit hin,
234 
Ueppig ersetzend, was sie zerstört, denn jeglicher Frühling
235 
Schmückte mit Blüthen sie neu, und jeglicher Sommer mit Früchten.
236 
Sie begrüßen mich jung; ich sie verblüht; kein Frühling
237 
Bringt mir zurück die Blüthengestalt, und zaubert dem Leben
238 
Wieder den Schmuck hervor, der ach! im Grabe verwelkt ist.
239 
Als ich zum letztenmal auf diesen Hügeln emporklomm,
240 
Treu vom Gatten gestützt, und gefolgt von rüstigen Söhnen,
241 
Ach, wie trieb damals vorwärts mich die leuchtende Hoffnung,
242 
Wie umgaukelten mich holdlächelnde Bilder der Zukunft!
243 
Und nun kehr’ ich zurück, trostlos, und verwaiset und einsam.
244 
Sprach’s und schwieg, und verbarg mit der Hand das Gesicht, laut weinend,
245 
Ruth auch schwieg, den Blick auf die jammernde Mutter geheftet,
246 
Wissend, daß heiliger Schmerz Trostworte verschmäht, doch in Wehmuth
247 
Bald sich mild auflös’t, die zurückführt ruhige Klarheit.
248 
Aber als zu versiegen begann die Quelle der Zähren,
249 
Nahte sie innig, des Trosts Wohllaut auf den rosigen Lippen:
250 
Mutter, du bist nicht verwais’t. Blick’ auf zum unendlichen Himmel,
251 
Und dann frage das Herz noch einmal: ob du verwais’t bist?
252 
Leben nicht die Verblichenen dir vor der Stirn und im Herzen?
253 
Küßt nicht geistig ihr Hauch dich in lieblicher Lüfte Gesäusel?
254 
Ist verloren, wer schied zu fröhlicher Wiedervereinigung?
255 
Nimmer ermangelst du auch der Lieb’ auf der Pilgerreise,
256 
Weil mein Herz noch schlägt. Muthvoll drum blicke nach dorten,
257 
Wo dich die Heimath hold hinruft zu erneuertem Daseyn.
258 
Sprach’s, und wie Frühlingsluft vom Himmel umnachtend Gewölk scheucht,
259 
Scheuchte das tröstende Wort den Schmerz von der Seele Nahemi’s,
260 
Daß glanzreich aufs Neue die Freud’ und die Hoffnung erstrahlten.
261 
Eilig schritt sie voran, zur Eil’ oft mahnend die Tochter,
262 
Selber doch öfter verweilend an dieser Stell’ und an jener,
263 
Wo Erinnerung ihr ein Bild der Jugend zurückrief.
264 
Jeglichen Wanderer schaute sie an, und forscht’ in den Zügen,
265 
Ob ein Freund vielleicht ihr erschien, ob ein theurer Verwandter,
266 
Aber jeglichen sah achtlos und fremd sie vorbeiziehn.
267 
Freudig zeigte sie dann fernhin auf die Hütte, worin sie
268 
Einst als Eli Meléchs Hausfrau vorsorgend gewaltet;
269 
Zeigte das Feld, ihm eigen vordem, das, unfruchtbar verlassen,
270 
Jetzo von Fremdlings-Händen bebauet, in üppigen Saaten
271 
Hinwärts wogt’ und zurück, wie im spielenden Weste die Meerfluth;
272 
Sprach Vermuthungen aus, von wem das Verlassne bestellt sey,
273 
Nannte der horchenden Schnur die Erben dabei, und beschrieb ihr
274 
Jegliches Alter, Gestalt und Gemüth, ausführlich und wortreich,
275 
Israels herrschende Sitt’ ihr verkündigend, wie mit dem Erbtheil,
276 
Wer es erwerbe, sich auch des Verstorbenen Wittwe verbinde.
277 
Also schritten sie fort in manchem Gespräch, und die Sonne
278 
Stand im Abend, da langten sie an in Bethlehem Juda.
279 
Viel war bethlehemitisches Volks im Thore versammelt,
280 
Pflegend vertrautes Gespräch und am thauigen Abend sich letzend,
281 
Als, neugierig beschaut, Nahemi des Weges daherkam,
282 
Sammt der blühenden Schnur, die, vor angaffenden Blicken
283 
Sittig die Augen gesenkt, an der Seite der Mutter daherschritt.
284 
Aber Nahemi sucht’ umher im Kreise des Volkes,
285 
Forschend in jedem Gesicht nach bekannten Zügen der Freunde,
286 
Lauschend, ob nicht ein freudiger Ruf Willkommen ihr biete.
287 
Männer standen umher, die sie einst als Knaben verlassen;
288 
Die sie als Männer gekannt, sie standen, die Wangen gerunzelt,
289 
Wankend am Stab, zahnlos, dem forschenden Blick unerkennbar;
290 
Die sie als Greise gekannt, sie schlummerten sämmtlich im Grabe.
291 
Also hatt’ ein Geschlecht, aufblühend, verdrängt das verblühte,
292 
Und sie fand sich allein, die Fremdlingin unter den Fremden.
293 
Zitternd erbangt’ ihr das Herz, und jegliche Hoffnung entschwand ihr.
294 
Wehmuthsvoll hinschauend auf Ruth, die sie liebend begleitet,
295 
Fühlte sie tief in der Brust Vorwürf’ und bittere Reue,
296 
Daß sie die treffliche Schnur hinausgelockt in die Fremde.
297 
Aber zuletzt, Muth fassend, befragte sie Einen des Volkes,
298 
Der, theilnehmendes Blicks, die zagenden Frauen beschaute,
299 
Nach dem Geschick der Freund’, und that ihm, wieder befragt, dann
300 
Kund den Namen, den Tod der Geliebten, und wie nun von Moab
301 
Sie nach Bethlehem heim Sehnsucht und Liebe geleitet,
302 
Und sie zeigte dabei, herzinnig sie preisend, auf Ruth hin,
303 
Die, holdseelig gebeugt, schaamroth zum Boden hinabsah.
304 
Solches hörte der Greis, dacht’ Eli Meléchs und gedacht’ auch
305 
Noch Nahemi’s und rief herbei so manchen Bekannten;
306 
Und aus dem, was die Zeit den Gesichtern verliehn und entnommen,
307 
Traten lebendig hervor die Züge früheres Alters,
308 
Daß sie, manchen erkennend, von Manchem wieder erkannt ward.
309 
Als theilnehmende Freundschaft nun und lauschende Neugier
310 
Viele des Volks herrief, und manch Willkommen ertönte,
311 
Sank von Nahemi’s Busen die Last schwerdrückender Sorgen.
312 
Freudig zog sie dahin, von Vielen geschäftig begleitet,
313 
Zum verlassenen Haus, und freundliche Gaben erfüllten,
314 
Wie Mitleiden sie spendet, das schnell entflammt und verlöscht ist,
315 
Bald den verödeten Raum, ihn neu zum Bewohnen zu rüsten.
316 
Denn es regte die Stadt sich ob Nahemi’s Zurückkunft,
317 
Und was von Ruth sie erzählt, rings flog es von Munde zu Munde.
318 
Viele priesen die schöne Gestalt und die Sitte der Fremden,
319 
Rühmend die fromm ausharrende Treu’ und die kindliche Liebe;
320 
Andere sannen, mit böslichem Wort Argwohn zu verbreiten,
321 
Dies vermuthend und jenes, was aus den Gefilden der Heimath
322 
Sie in der Schwieger Geleit nach Bethlehem Juda getrieben.
323 
Aber Alle doch zog Neugier zu dem rosigen Weib hin,
324 
Zu vernehmen von ihr den Klang ausländischer Sprache,
325 
Zu erforschen des Auslands Art und Weis’ und Gesittung,
326 
Und Nahemi’s Geschick im fernen Lande zu wissen,
327 
Auch was zum Vaterland heimtrieb die lange Vergessne.
328 
Doch als, was Neugier ausforscht, nun alles enthüllt war,
329 
Als sie des Anblicks sich des blühenden Weibes ersättigt,
330 
Das mit sittigem Ernst lustwandelnde Blicke zurückwies,
331 
Als sich in Altgewohntes das reizende Neue verwandelt,
332 
Wich gleichgültig zurück der Angedrungenen Mehrzahl.
333 
Andere schwanden hinweg, wie mit der Sonne der Schatten,
334 
Als Nahemi bedrängt Beistand sich erbeten und Rathschlag,
335 
Wie wohl Eli Meléchs Erbschaft den Händen der Fremden,
336 
Die den verlassenen Acker indessen bebaut, zu entziehn sey.
337 
Also fanden sie bald sich allein in verödeter Hütte,
338 
Erst von Freunden gesucht, doch zuletzt vergebens sie suchend.
339 
Bald auch näherte sich, schwer drückend und schwerer bedrohend,
340 
Düsterer Mangel dem Haus, und fern blieb Hülf’ und Erbarmen.
341 
Da umdunkelte sich das Herz und das Auge der Greisin;
342 
Schwerer drückt’, als der Jahre Last, sie die Bürde des Kummers,
343 
Wenn sie auf Ruth hinsah, die ewig frohes Gemüthes,
344 
Aus der Lieb’ unerschöpflichem Quell die Freud’ und die Kraft trank,
345 
Waltend im engen Haus, unermüdet die schaffenden Hände.
346 
Doch in Nahemi’s Brust stritt mit dem Zweifel die Sorge,
347 
Und mit der Liebe rang Vorwurf und bittere Reue,
348 
Daß von Entschluß zu Entschluß sie fort der schwankende Streit trieb,
349 
Und auf den Lippen das Wort, das oft hindringende, stockte.
350 
Einstmals war sie allein mit Ruth in der Stunde der Dämmrung,
351 
Welche das Herz aufschließt, daß im traulichen Wechsel-Gespräche
352 
Gern sich in Freundes-Brust ausschüttet verschlossener Kummer,
353 
Und sie begann, laut weinend, und Schluchzen erstickte das Wort oft:
354 
Ruth, unablässig lastet auf mir das Zürnen Jehova’s,
355 
Welcher, verwirrend den Geist, Sehnsucht in entzündeter Brust weckt,
356 
Die zum Verderblichen hin vom Guten und Rechten mich fortreißt.
357 
Fluchbeladen irr’ ich einher – kraftlos und entstrickt sind
358 
Schon von unendlichen Kummers Last der Sinn und die Glieder,
359 
Und nah winkt mir im Grab von allen Leiden Erlösung.
360 
Aber du, theilnehmend am Fluch, so mit mir du vereint bist,
361 
Weit noch blickst du hinaus nach dem Ziele des irdischen Lebens;
362 
Sollst noch hienieden dich freun, erfreuend auch schaffen und wirken,
363 
Nicht harmvoll unersetzliche Zeit der Jugend vertrauern,
364 
Denn die Blüthe, vom Jammer zernagt, sie reifet zur Frucht nicht.
365 
Darum wende den Schritt vom Pfad, den ich Elende gehn muß,
366 
Dir ein erfreulich Geschick, von mir geschieden, zu suchen.
367 
Laß mich allein hinziehn zu dem Grab, wo in Kurzem ich ruhn soll.
368 
Sprach’s und schwieg, aufstöhnend in bitterem Schmerz, und unendlich
369 
Rannen die Thränen herab an gefurchten Wangen der Greisin.
370 
Aber Ruth, nicht begeistert wie jüngst, auf dem Hügel bei Moab,
371 
Sondern ernst, kraftvoll, in erhabener Ruhe, begann so:
372 
Hör’ einmal noch den heiligen Schwur: Ich weiche von dir nicht,
373 
So dein Gott mir helfe, der Ewige, welcher ist mein Gott.
374 
Trifft dich des Mächtigen Hand, wohlan, so treffe sie mich auch.
375 
Drückt dich nieder die Last, wohlan, so drücke sie mich auch,
376 
Aber sendet der Herr mir Glück, so send’ er es dir auch.
377 
Und Er sendet es bald, dies sagt froh ahnend das Herz mir,
378 
Welches auf Ihn vertraut, und besserer Tage gewiß ist.
379 
Scheuch’ auch du kleinmüthige Furcht und wecke die Hoffnung.
380 
Frei blick’ um dich in Gottes Welt. – Reif wogen die Saaten
381 
Auf reich prangender Flur, vom Allernährer gesegnet.
382 
Der aus dem Korn vorrief, unerforschlich in bildender Urkraft,
383 
Kraut und grünende Halm’ und den Reichthum goldener Aehren;
384 
Uns auch rief er die Blüthen zur Lust, und die Früchte zur Nahrung.
385 
Doch dem Menschen schenkt er die Kraft und die regsamen Hände,
386 
Daß er sich müh’ und schaff’ und das Schicksal ringend besiege,
387 
Nicht träg klagend und duldend dem Drohen sich beuge des Unglücks.
388 
Schon ergießt sich die Schaar frohsinniger Schnitter auf’s Feld hin,
389 
Ihnen folg’ ich getrost, denn rüstiger Hände bedarf man,
390 
Und, wo Arbeit, findet sich Lohn. Doch begehrte der Hülfe
391 
Keiner, so sammelt, was oft leichtsinnig der Reiche vergeudet,
392 
Viel mühevoll sich bückend, als Aehrenleser der Arme;
393 
Morgen geh’ ich mit Gott und bringe von reichlicher Ernte
394 
Einen Theil dir ins Haus, und verscheuch’ eindringenden Mangel,
395 
Denn Beistand mir verleihn wird Er, der den Muth und die Kraft gab.
396 
Sprach’s, und bei dem Gespräch war schwarzumhüllend die Nacht schon
397 
Still herniedergeschwebt und Alles verborgen im Dunkel.
398 
Aber der Greisin war’s, als ob aus der Stelle, wo Ruth stand,
399 
Dringe lieblicher Schein, gleich rosiger Morgenröthe,
400 
Sanft umdämmernd die hohe Gestalt und die herrlichen Züge;
401 
Dann allmählig von unten verschwind’, und weiter nach oben
402 
Glänzender leucht’ und zuletzt, gleich sonnengoldenem Reife,
403 
Rund vorstrahlend aus schwarzer Nacht, das Haupt ihr umfasse;
404 
Und Nahemi’s Gemüth durchbebt’ ein heiliger Schauer.
 
405 
_____________
 
406 
Dritter Gesang.
 
407 
Kaum drang dämmriges Licht, noch kämpfend mit Nacht, in die Hütte,
408 
Als Ruth leis’ aufstand, sich über die schlummernde Mutter
409 
Still hinbog und die Stirn mit verschwebendem Kuß ihr berührte.
410 
Und sie ging nun hinaus auf die schweigende Flur, die von Nebeln,
411 
Feucht und schaurig und kalt, wie von wallenden Schleiern verhüllt war,
412 
Daß der Pfad sich kaum vor dem Fuße der Wandlerin zeigte.
413 
Da ward bang ihr ums Herz; kein Blick zum verschleierten Himmel
414 
Scheuchte die Sorge zurück; kein Ringen und Streben des Geistes
415 
Nach erloschenem Muth und fröhlichem Gottvertrauen.
416 
Nur fruchtlos erschien ihr die Müh’, und feindlich die Erde,
417 
Nirgends, wie gestern, ersahn ein lohnendes Ziel sich die Blicke.
418 
Aber höher empor stieg, reich ausgießend die Strahlen,
419 
Ueber den Nebeln die Sonn’ an des Aethers ewiger Bläue,
420 
Und allmählig zu wogen begann’s in dem weißen Gedüfte,
421 
Und lebendiger ward und lebendiger immer die Regung.
422 
Hier wich goldenem Glanz, der plötzlich verschwebte, der Nebel,
423 
Dort verdichtet’ er sich zum langhinziehenden Streife,
424 
Welcher sich bald auflöst’ in Tropfen erquickendes Thaues.
425 
Frei nun stralte der Welt die erhabene Fürstin des Tages,
426 
Glanz ausspendend und Lust, und jegliches Gräschen der Triften,
427 
Jeglicher Halm der Flur, und jegliches Blättchen der Bäume,
428 
Trug, vielfarbiges Lichts, ihr Bild in flüssigen Perlen,
429 
Und goldglühend erschien der Wald und der Bach und der Hügel.
430 
Lustvoll klang Wohllaut freischwebender Lerch’ aus den Lüften,
431 
Lustvoll klang, antwortend, aus Waldes-Umnachtung der Vollchor,
432 
Lustvoll mischten sich ihm der rüstigen Schnitter Gesänge.
433 
Und wie die Welt ringsum sich in Glanz und Tönen belebte,
434 
Wich, o Ruth, auch von dir der Sorg’ umhüllender Nebel,
435 
Und dir erglühte das Herz im himmlischen Glanze des Morgens,
436 
Und nachhallend erklang der Jubelgesang in der Brust dir.
437 
Aemsig mischtest du dich in der Schnitter fröhliche Reihen,
438 
Würdiger Demuth voll, und ernst in kindlichem Frohsinn,
439 
So, daß wenn auf holdem Gesicht und schlanker Gestalt dir
440 
Weilte der Männer Blick, Ehrfurcht Scherzworte verbannte.
441 
Schon lang goldnes Getreid’ auf der Flur, der Sichel gesunken,
442 
Lang in Streifen gereiht, und bald erstanden die Garben,
443 
Wohlgeordnet gehäuft, den fleißig schaffenden Händen.
444 
Zwischen ihnen umher ging Ruth, sich ämsig und mühsam
445 
Bückend, und viel aufsammelnd der gern verlorenen Aehren;
446 
Denn es schauten mit Lust die Knechte sie an und die Dirnen,
447 
Wenn sie, lange gebückt, nun tief aufathmend emporstand,
448 
Hochroth glühend die Wang’ und im Blick frommlächelnde Milde,
449 
Ließen ihr übrig auch des Getreides viel, daß der Vorrath
450 
Schleuniger ihr sich vermehr’ und das mühsame Suchen erleichtre.
451 
Siehe, da schreitet mit heiterem Ernst ein stattlicher Mann her.
452 
„Gott mit euch!“ so sagt er zum Gruß. Und die Schnitter, mit Ehrfurcht,
453 
Traten zurücke, gebeugt und erwiedern: Es segne der Herr dich!
454 
Und er geht auf dem Felde herum, betrachtend die Arbeit,
455 
Tadel und Lob ausspendend, und dies und jenes verordnend,
456 
Still und sicher und ernst, in heitrer ruhiger Würde.
457 
Endlich blickt er auf Ruth, befragend den Aelt’sten der Knechte,
458 
Welchen er vorgeordnet den übrigen: Weß ist die Dirne?
459 
Und dem Fragenden drauf erwiedert der Knecht: Herr, Ruth ist’s,
460 
Welche von Moab her mit der Schwieger Nahemi gekommen.
461 
Aehren sammelt sie hier, da ich es gestattet, geschäftig
462 
Seit des Morgens Beginn, und gönnt nie Ruhe den Gliedern.
463 
Aber der Mann beschaut’ aufmerksames Blicks die Bedrängte,
464 
Welche beschämt dortstand, hochroth, und die Blicke gesunken.
465 
Und als Jener ihr winkte, da nahte, verschränket die Arme,
466 
Demuthsvoll sich Ruth, und beugte sich grüßend zur Erde.
467 
Aber Jener begann mit Wohlgefallen im Blicke,
468 
Freundlich und mild die Geberd’ und der Ton: Ich bin vom Geschlechte
469 
Eli Meléchs und Boas genannt, und mein ist der Acker.
470 
Höre denn, meine Tochter! Du sollst nicht weiter mir gehen,
471 
Aehren auf Anderer Feld, der unfreundlichen Fremden, zu lesen.
472 
Halte zu meinen Dirnen dich stets, und lese, wo sie gehn.
473 
Kein Knecht soll dir Leids anthun, so will ich gebieten.
474 
Geh’ auch zu dem Gefäß, so oft dich dürstet, und trinke,
475 
Iß auch von meinem Brote zur Essenszeit mit den Schnittern.
476 
Also sprach er zu ihr und tief zum innersten Herzen
477 
Drang ihr des Mannes gastliche Weis’ und freundliche Rede.
478 
Neu ermuthigt schaute sie nun zu der hohen Gestalt auf,
479 
Ihm ins edle Gesicht, das Vertrauen erweckt’, und begann so:
480 
Herr, wie hab’ ich Gnade vor deinen Augen gefunden,
481 
Daß du sogleich erkannt mich, die Arme, die ich doch fremd bin?
482 
Boas aber begann, wie väterlich segnend, die Hand ihr
483 
Sanft auf’s Haupt gelegt: Es ist mir Alles verkündet,
484 
Was du Gutes gethan an deiner Schwieger Nahemi,
485 
Wie du für sie vertauscht um feindliche Fremde die Heimath.
486 
Solches vergelte dir Israels Gott, auf den du vertraut hast,
487 
Daß es dich nimmer gereue, die Wege des Guten zu wandeln.
488 
Sprach’s und wandte den Schnittern sich zu mit dem ernsten Gebote:
489 
Lasset sie lesen und scheltet sie nicht; auch laßt von den Haufen
490 
Aehren ihr liegen, und Keiner erkühne sich, sie zu beschämen.
491 
Gern vollbrachten das Wort des Gebieters die Dirnen und Knechte;
492 
Doch, wie wer in des Traums Trugbild sich in schwerer Gefahr sah,
493 
Dann, aufstöhnend vor Angst, kraftlos, unbeweglich, gefesselt,
494 
Plötzlich, wie hergezaubert, den herrlichen Retter erblickte,
495 
Welcher die Band’ auflöst’ und die drohenden Schrecken verscheuchte,
496 
Und dem Erwachten noch lang vor der Stirn und dem sinnenden Geist lebt;
497 
Wenn im Leben sodann ein nie gesehenes Antlitz
498 
Doch als bekannt ihm erscheint, und er endlich des Traumes gedenket,
499 
Und dem Staunenden nun sich das Schlummer-Gebilde verwirklicht;
500 
Also staunete Ruth, der würdigen Züge gedenkend,
501 
Und der edlen Gestalt des freundlich gastlichen Mannes.
502 
War ihr’s doch, als hätte sie längst mit frohem Vertrauen
503 
Ihn gekannt, das Gesicht gesehn und die Rede vernommen,
504 
Und als sende der Herr ihr zurücke den lange Vermißten,
505 
Um zu beenden die Noth und die fröhliche Hoffnung zu krönen.
506 
Aber auch Ihm erschien Ruth gleich den Gebilden, die lieblich
507 
Er als Jüngling erträumt, in der Mondnacht heiliger Stille,
508 
Und den Entfernten umschwebte die sittige schöne Gestalt noch,
509 
Wie sie gebeugt dastand, gekreuzt auf dem Busen die Arme;
510 
Und im Ohr erklang wohllautend und süß ihm die Rede.
511 
Also kehrt’ er zurück auf’s Feld zur Stunde des Essens,
512 
Setzte sich hin zu ihr, und reichte mit eigenen Händen,
513 
Voll Sorgfalt auswählend, ihr dar das Beste der Speise.
514 
Sprach auch freundlich bedeutsames Wort von besserer Zukunft,
515 
Schied dann und kam zurück, zu Geduld sie ermahnend und Frohsinn,
516 
Weilete gern bei ihr und trennte nur zögernd von ihr sich.
517 
Als mit kühlendem Thau auf die Fluren der Abend herabsank,
518 
Sprach er: Kehre nun heim, doch morgen kommst du von Neuem,
519 
Aufzusammeln vom Ueberfluß, den der Herr mir verliehen.
520 
Und sie kehrte zur Hütte zurück, mit Aehren belastet,
521 
Und verkündete froh der Schwieger des Tages Ereigniß.
522 
Aber Nahemi vernahm’s und blickt’ in freudigem Staunen
523 
Auf die Freudige hin, und heiliger Schauer ergriff sie,
524 
Denn als gottbeseeligtes Weib erschien ihr die Tochter,
525 
Die, nie wankend in Lieb’ und Vertraun, weissagendes Geistes,
526 
Ihr zukünft’ges Geschick im reinen Gemüthe gelesen,
527 
Denn schon sah sie im Geist des kindlichen Hoffens Erfüllung.
528 
Wichtiges schien in Nahemi’s Brust sich lebendig zu regen,
529 
Frohem Geheimniß gleich, das, laut zu werden in Worten,
530 
Oft aufstieg zu der Lippen Rand, doch von höherm Gebote,
531 
In die Tiefen der Brust lautlos zurücke gebannt ward.
532 
Doch Ruth kehrte zurück auf’s Feld beim Grauen des Morgens,
533 
Sammelt’ ein wie gestern, und half abwechselnd den Schnittern,
534 
Wenn es Boas gebot, der immer vertrauter, bekannter,
535 
Immer herrlicher ihr erschien an Gemüth und Gestaltung,
536 
Auch vertraulicher stets, und stets liebreicher sich zeigte.
537 
Oftmals weilte sein Blick in sinniger ernster Betrachtung
538 
Auf dem ämsigen Weib, abgleitend, wenn sie empor sah.
539 
Oft Beifall auch winkt’ er ihr zu mit freundlichem Lächeln,
540 
Oft auch trat er hinzu, wenn sie matt ausruhte, mit Fragen,
541 
Gut und verständig gestellt, ihr Geist und Gesinnung zu prüfen.
542 
Und sie erkannt’ in ihm den Herrn und den Herrscher, und liebt’ ihn.
543 
Einst am Abend – es war in sicherer Scheuer der Ernte
544 
Größerer Theil verwahrt, doch auf dem Feld noch der klein’re –
545 
Rief er gebietend zu sich die zerstreuten Dirnen und Knechte.
546 
Liebe, sprach er, es ziehn um die Gipfel des fernen Gebirges
547 
Grau die Wolken sich schon, andeutend nahenden Regen.
548 
Laßt uns eilen darum, der Ernte Reste zu bergen,
549 
Daß, was der Herr reich segnend geschenkt, nicht Trägheit verderbe.
550 
Darum bleiben wir all’ in der milden Nacht auf dem Feld hier,
551 
Um vor dem Grauen des Tags die fleißigen Hände zu regen.
552 
Sprach’s und die ämsigen Schnitter, so Dirnen als Knaben, bezeigten
553 
Weisem Geheiße des Herrn allsämmtlich frohen Gehorsam.
554 
Dann zu Ruth gewandt: Noth thut es fleißiger Hände,
555 
Und du hast den Fleiß mir bewäht; drum denk’ ich, du bleibest
556 
Auch auf dem Feld allhier und hilfst vor dem Grauen des Morgens.
557 
Drauf antwortete Ruth; Wie du es geboten, gescheh’ es.
558 
Doch mein harret Nahemi daheim und würde sich ängsten,
559 
Wenn ich die Nacht ausblieb’. Heimkehren will ich drum eiligst,
560 
Kund’ ihr dringend, zur Stadt, und bald dann kehr’ ich zum Felde.
561 
Also eilte sie fort, beflügeltes Schrittes, zur Schwieger,
562 
Meldet’ in eiliger Red’ und fröhlichem Wort’ ihr den Antrag,
563 
Wollt’ auch schnell, wie Liebe gehorcht, wenn Liebe geboten,
564 
Wieder zurück zum Feld; da aber faßte Nahemi
565 
Sanft der Scheidenden Arm und sprach die verständigen Worte:
566 
Thue, wie Boas gebeut, und rege die fleißigen Hände,
567 
Denn vor allem erfreut den Mann an dem Weibe des Fleißes
568 
Heiterer Geist und das Walten der stillvorsorgenden Ordnung.
569 
Gehe dahin mit Gott, der zum glücklichen Ziele dich leite.
570 
Also wandelte Ruth hinaus in das nächtliche Schweigen.
571 
Wechselnd erhellte den Pfad Mondlich, denn es eilten die Wolken,
572 
Nahendes Sturms Vorboten, dahin an der dunkleren Bläue,
573 
Noch zerrissen, zerstreut, groß, klein und weißlich und schwarzgrau.
574 
Oft umhüllten sie ganz den Schimmer des himmlischen Lichtes,
575 
Schimmernd hier und dort, und den Rand vom Monde versilbert;
576 
Oft, gleich duftigen Schleiern, umwallten sie ihn, daß er vorschien
577 
Schwach und gedämpft, wie des Auges Glanz aus werdenden Thränen.
578 
Oft auch drängt’ er siegend sich vor aus der dunklen Umschattung,
579 
Daß glanzreicher das Licht hinzuckt’ und die Fluren erhellte,
580 
Bis er, wieder besiegt, von ereilenden Wolken umhüllt ward.
581 
Also wandelte Ruth nun dahin, und mit staunendem Lächeln
582 
Blickte sie um sich herum auf die wechselnden Zaubergestalten –
583 
Und ihr war’s, als gleite sie hin, wie die schwebenden Wolken,
584 
Sanft durch’s himmlische Blau getragen von Schmeichellüften,
585 
Und das Leben erschien wie ein holder freundlicher Traum ihr.
586 
Aber der treffliche Mann, der ihr wie ein Engel genaht war,
587 
Blickt’ entgegen ihr überall, wohin sie auch blickte,
588 
Von des Himmels Gezelt, von der Flur und aus schauriger Waldnacht,
589 
Ernst, huldvoll, und ewig derselb’ in den wechselnden Bildern.
590 
Und sie kam zum Felde zurück, da lagen die Schnitter
591 
An den Garben umher, von erquickendem Schlafe bewältigt,
592 
Aber der Dirnen Lagerstatt war nirgend zu finden,
593 
Wie sie auch sucht’, auf dem Feld hierhin sich wendend und dorthin.
594 
Schüchtern kehrte sie nun zurück zu dem Lager der Schnitter.
595 
Doch des Monds Lichtglanz, der verschwebende, zeigte das Antlitz
596 
Boas, gen Morgen gekehrt, in des Schlafes erquickender Ruhe.
597 
Da schlug muthig das Herz der Zagenden. Sichres Vertrauen
598 
Scheuchte die Furcht aus der Brust und der Vorsicht klügelnde Zweifel,
599 
Denn gut konnt’ es ihr nur ergehen im Schutze des Guten,
600 
Sie mißkennen konnte nicht Er, den sie sicher erkannte.
601 
Also breitete sie zu des Schlafenden Füßen den Mantel,
602 
Eine Garbe zum Kissen des Haupts, und legte sich leise,
603 
Zu süß labender Ruh hingießend die rosigen Glieder;
604 
Sah still lächelnd empor in des Himmels rege Bewegung,
605 
Zu den Gestirnen, die hier hell schienen, und dort sich verbargen,
606 
Bis die Gestirn’ und die Wolken, die Flur und die Freud’ und Sorge
607 
Alle zusammt hinschmolzen in purpurnem Dunkel des Schlummers.
608 
Aber bevor Frühroth am Saume des Morgens emporstieg,
609 
Raffte Boas sich auf, und schauerte plötzlich zusammen,
610 
Als er ein schlummerndes Weib gestreckt sich zu Füßen erblickte.
611 
Doch er näherte sich, sie laut anrufend: Wer bist du?
612 
Und aufschreckend fuhr sie empor, trat schüchtern zurücke,
613 
Bog demüthig das Haupt und die Knie, und entgegnete: Ruth ist’s,
614 
Deine Magd, die bei dir, Herr, Schutz sich gesucht und gefunden.
615 
Boas aber schwieg erst lange verwundert, und führte,
616 
Ihr mit dem Winke verbietend das Wort, sie weg von den Knechten.
617 
Aber sobald sie gelangt aus dem Angesichte der Schläfer,
618 
Sprach er, mild anredend die Zitternde: Scheuche die Furcht jetzt;
619 
Nicht mißkenn’ ich dich ja. Wohl hab’ ich mit Freuden betrachtet,
620 
Wie du den Jünglingen nie dich genaht mit freierer Sitte,
621 
Wie auch jeder, obwohl liebreizende Jugend ihn anlockt,
622 
Doch vor dem Ernste des Blicks von dir ehrfürchtig zurücktritt,
623 
Und in solchem erprobt sich des Weibes Gesinnung und Würde.
624 
Aber, daß nicht Argwohn und Lästerung wecke dein Hierseyn,
625 
Geh’ itzt weg, dorthin wo hinter Gebüschen die Dirnen
626 
Unter den Palmen ruhn. Bald weck’ ich euch alle zur Arbeit.
627 
Sprach es, und hieß sie gehn, doch ergriff bei der einen der Hände
628 
Sie, bei der anderen dann, und hielt stillschweigend noch immer
629 
Lang an beiden sie fest, und betrachtete sie voll Liebe.
630 
Endlich begann er und gab im Ton kund innre Bewegung:
631 
Ruth, nein, scheide noch nicht. Hier unter dem Himmel Jehova’s,
632 
In der heiligen Nacht spricht gern sich zum Herzen das Herz aus,
633 
Und es zeigt sich das Herz den herzlichen Worten empfänglich.
634 
Hör’ also, was besser vielleicht in verschwiegener Brust mir
635 
Reifend längere Zeit noch schlummerte. Hör’ es und rede
636 
Dann aufrichtig und wahr, wie das innerste Herz dir gebietet.
637 
Blick’ ich auf deine Gestalt und dein fromm lächelndes Antlitz,
638 
Dann erfreut sich mein Aug’ und erfreut sich innig die Seele;
639 
Hör’ ich, mit Lust dir horchend, der Stimme liebliche Töne,
640 
Dann durchdringt Wohllaut mir das Ohr und das tiefste Gemüthe;
641 
Und erwäg’ ich den Sinn der bescheiden verständigen Worte,
642 
Find’ ich im hellen Geist des eigenen Geistes Gedanken;
643 
Denk’ ich dessen, was du gethan an der Schwieger Nahemi,
644 
Und betracht’ ich den heiteren Fleiß und die Sitt’ und die Ordnung,
645 
Schau’ ich in Allem das Maaß, und Ueppigkeit nirgend noch Mangel,
646 
Froh dann find’ ich Alles in dir, was ein treffliches Weib ziert;
647 
Und mir regt sich der Wunsch, dich mein zu nennen auf ewig.
648 
Sprich denn, würdest du mir auch gern heimfolgen als Hausfrau?
649 
Sprach es und schwieg sodann, Antwort erwartend mit Sehnsucht,
650 
Doch es bannte das Staunen der Lust in der wogenden Brust dir,
651 
Ruth, das erfreuende Wort und Zähren entströmten den Augen.
652 
Aber Boas begann mit inniger Rede von Neuem:
653 
Sprich, nicht zürn’ ich dir ja, ob auch verneinend das Wort sey.
654 
Wohl gebührt dir ein Gatt’ in der Jugend lieblicher Blüthe,
655 
Doch mir entflohen bereits die duftigen Tage des Frühlings;
656 
Ihm nachfolgend entfloh die Schaar holdgaukelnder Scherze,
657 
Und mir wohnet der Ernst im Gemüth und auf männlichem Antlitz.
658 
Aber, wenn auch dein Herz zu mir nicht liebend sich hinneigt,
659 
Bleib’ ich doch dein sorgender Freund mit zärtlicher Achtung.
660 
Siehe, da brach, hellsprudelndem Quell gleich, ihr aus dem Busen
661 
Freudiger Rede Strom, und sie sprach mit erhobener Stimme:
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Nicht mißkenne mein Herz, daß jetzt in tiefer Beschämung
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Sich unwürdig fühlend des Glücks, das du herrlich mir darbeutst,
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Statt mit der Red’, Antwort dir allein mit Thränen gegeben,
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Unaufhaltsam entstürzt den wonnegeblendeten Augen.
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Sah ich doch demüthig empor zu dir, der du hülfreich
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Mir, ein verheißener Engel, erschienst, der Armen, Verlassnen,
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Und dir weihte mein Herz mit dem Dank andächtige Liebe.
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Schien mir’s doch das schönste Geschick, als Magd dir zu dienen.
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Aber ehren willst du mich hoch, die ich arm bin und niedrig,
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Mich aufhebend zu dir aus der Tiefe der Noth und des Grames.
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Also verleihe der Herr zu dem eifrigen Willen die Kraft mir,
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Daß mein Leben und Seyn, sich dir hingebend, dein Lohn sey.
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Sprach’s und auf Boas ernstem Gesicht erglänzte die Freude
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Und er zog sie an sich und küßt’ inbrünstig die Stirn ihr.
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Und er begann von Neuem sodann: Ich bin vom Geschlechte
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Eli Meléchs und bin der Erben einer der Söhne.
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Einer nur ist näher denn ich, und welcher das Erbtheil
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Sich erworben, vermählt sich nach Israels Sitte die Wittwe.
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Aber reichlich gesegnet mit weit hinreichenden Feldern
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Hat mich der Herr huldreich, und mit üppig sich mehrenden Heerden.
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Doch zu erwerben in dir, holdseeliges Weib, mir das höchste
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Erdengut, was opfert’ ich nicht von den anderen Schätzen?
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Also vergleich’ ich wohl mit dem Erben mich um das Erbtheil,
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Daß Genüge geschehe der alt-ehrwürdigen Sitte.
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Morgen harre nur mein; ich verkünde dir fröhlichen Ausgang.
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Also sandt’ er sie hin, die schlafenden Dirnen zur Arbeit
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Aufzuwecken; er selbst sofort erweckte die Knechte.
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Alle regten die Hände nun frisch, und im frohen Gewühle
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Waltete Ruth mit ämsigem Fleiß und sinnigem Schweigen.
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Glücklich ward mit vereinigter Kraft die Ernte geborgen,
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Und heim wandelte Ruth mit den Dirnen zur Hütte Nahemi’s.
 
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Vierter Gesang.
 
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Hoffnung, strahlendes Licht vor dem Blick kühnstrebender Jugend,
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Dir folgt, stark im Vertraun, aus dem sicheren Hause des Vaters
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Keck in die feindliche Welt, auf das Meer, ins Gewühle der Schlachten,
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Lebend im Künftigen nur, der Gefahr hohnsprechend, der Jüngling;
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Dir die schüchterne Braut, die, verlassend die trauliche Heimath,
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Weinend, doch froh, ihr ganzes Geschick hingiebt an den Fremden.
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Doch wie der Frühling entflieht, so erbleicht allmählig dein Schimmer,
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Und mit dem Muthe der Brust, mit der Stärke der Glieder erlischt er,
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Oder erscheint dem Getäuschten nur wie ein flackerndes Irrlicht,
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Bis er neu aufdämmert, und heller und rosiger immer
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Strahlt, am Rande der Gruft, das Land jenseits zu erleuchten.
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Jetzo in dir hochglühend das freudige Herz und die Wangen
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Kam Ruth heim, und erzählte, was heut ihr geschehn und was Ahnung
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Längst in Nahemi’s Gemüth ankündigte. Aber sie wagte
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Nicht zu fassen, was nun sich deutlich gebildet ihr darbot,
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Und sie hörte das Wort nur halb froh, schweigend in Zweifeln.
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Als nun die Dämmerung schon einbrach, und Boas doch immer
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Noch in der Hütt’ ausblieb, da wurde die Sorge zum Worte.
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Trautes Kind, so begann sie weich, wohl schmerzt es mich innig
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Dir zu stören das süße Vertraun fromm kindlicher Liebe.
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Doch nicht gieb dich so völlig dahin schön strahlender Hoffnung,
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Daß dein Auge, geblendet, nicht schmerzliche Thränen vergieße,
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Wenn du, in finsterer Nacht aufschreckend, dich plötzlich allein siehst.
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Ach, wer völlig das Herz anfüllt mit Einer Erwartung,
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Einem Ziel nachstrebt, dem füllt sich, wenn es verschwunden,
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Niemals wieder zu Frieden und Ruh die verödete Brust aus.
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Darum denke: Veränderlich zeigt sich das Trachten der Menschen,
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Und ihr Will’ ist ein Rohr, hierhin sich wendend und dorthin,
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Und unermeßlicher Raum trennt öfters Wort und Erfüllung.
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Also warnte sie, leis andeutend, was sie nicht aussprach.
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Doch Ruth sprach, aufschauend mit liebebeseeligten Blicken:
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Mutter, gedenk’ ich der lieblichen Nacht, gedenk’ ich der ganzen
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Zeit der Ernte, fürwahr, mir erscheint’s wie ein duftiges Traumbild,
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Das mir die trunkenen Sinn’ umgaukele, mir beim Erwachen
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Wieder zu schwinden in Nichts; doch bin ich seelig und hoffe.
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Denn im Innern der Stirn, hier, wo die geistige Sehkraft
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Wohnt, hier seh’ ich sie stets, die herrlichen Züge voll Wahrheit,
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Und, süß träumend, erkenn’ ich, daß dieses Gebilde kein Traum sey.
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Sähest du Ihn wie ich, wie er froh ist in ewiger Ruhe,
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Wie er dem Eichbaum gleicht, deß Stamm den brausenden Stürmen
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Stark, unbeweglich trotzt, indeß er mit grünenden Aesten
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Weit vor der Sonne drückender Gluth die blumige Flur schützt,
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Und süß kos’t im bewegten Laub mit der säuselnden Mailuft,
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Wahrlich, es schwänden auch dir, wie mir, die Sorg’ und der Zweifel.
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Also redeten sie in sinnigen Wechselgesprächen,
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Schwankend Nahemi, doch Ruth unverändert immer dieselbe.
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Doch sobald nun der Abend die bethlehemitischen Männer
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Alle zum Thor hinrief, ging Boas auch zur Versammlung.
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Als nun der Erb’ ankam, da winkt’ ihm Boas, und jener
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Setzte sich ihm zur Seite hin, und Boas berief dann
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Zehn der Aeltesten noch des Volkes und sprach zu ihnen:
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Setzet euch her! und sie setzten sich, und Boas begann nun:
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Vom Moabitischen Land ist wieder gekommen Nahemi,
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Welcher der Mann dortselbst mit den beiden Söhnen gestorben.
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Aber verlassen haben sie hier an Aeckern ein Erbtheil,
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Welches nach Israels Sitte der Erben Nächster erstehn soll.
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Aber es ist kein Erbe näher denn du, und nach dir ich;
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Wohl, so sprich vor den Bürgern hier und den Aelt’sten des Volkes,
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Willst du Eli Meléchs Erbtheil von der Wittwe dir kaufen?
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Wohl beerben will ich’s! antwortete drauf der Gefragte,
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Boas aber sprach: Weß Tags du den Acker gekauft hast,
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Mußt du Ruth auch nehmen, die Moabitin, die Wittwe
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Mahlons, welcher am letzten verstarb, denn so ist die Sitte,
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Daß auf das Erbtheil auch ein Name dem Todten erweckt sey.
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Aber der Erbe, der nicht die rosige Fremde beachtet,
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Denkend des falschen Götterdiensts im verachteten Moab,
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Wandte nun lächelnd sich um, und sprach die scherzenden Worte:
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Nein, nicht kauf’ ich’s, denn leicht mir verderben möcht’ ich mein Erbe,
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Kaufe nun du’s, ich trete dir gern und vom Herzen mein Recht ab.
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Und in Israel war von Alters her die Gewohnheit,
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Daß der Erb’, entsagend dem Erbtheil, dessen zum Zeichen
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Sich den Schuh auszog und ihn darreichte dem Andern.
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Also that nun der Mann und sprach: So magst du es kaufen.
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Boas aber sprach zu den Aeltesten und zu dem Volke:
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Seyd mir Zeugen deß, daß ich alles habe gekaufet,
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Was war Eli Meléchs und alles, was Chilions und Mahlons,
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Ruth auch nehme zum Weib, die Moabitin, damit ich
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Einen Namen erwecken mög’ auf sein Erbe dem Todten,
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Und sein Nam’ hinfort aus dem Thore des Orts nicht vertilgt sey,
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Sprach es, und hoch ihn verehrend, begann laut jubelnd das Volk nun:
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Deß sind Zeugen wir Alle. Das Weib, das du in dein Haus führst,
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Mache wie Rahel und Lea der Herr, die beide gebauet
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Haben Israels Haus, und es wachse sehr in Ephrata
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Und hoch werd’ es hinfort in Bethlehem Juda gepriesen.
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Boas aber ging froheiliges Schrittes zur Hütte,
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Wo in seinem Geleit eintrat die Freud’ und der Segen.
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Demuthsvoll schwieg Ruth und beugt’ ehrfürchtig dem Herrn sich,
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Welcher sie mild aufhob und des trefflichen Weibes sich freute.
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Doch mit Zähren der Lust, und nicht des Wortes ermangelnd,
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Dankte Nahemi dem Herrscher des Alls und segnete Beide.
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Boas führte nun heim, ernst heiter, die blühende Hausfrau,
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Und sie bracht’ ihm ins Haus der Schätze höchsten, die Liebe,
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Die nothwendig und leicht, wie der Saame die goldene Frucht treibt,
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Auch die Treu’ erzeugt, die Geduld und die waltende Sorgfalt,
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Heiteren Sinn, Liebreiz und was dem Manne zum Heil ist.
790 
Froh auch vergaß Nahemi des Grams bei dem Glücke der Tochter.
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Kaum vorüber noch floß ein Jahr, da fügt’ es Jehova,
792 
Daß dem Gatten Ruth ein Söhnlein gebar, und Nahemi
793 
Küßt’ inbrünstig das liebliche Kind, und mit ahnender Freude
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Legte sie’s auf den Schooß, und sprach: So will ich dich pflegen,
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Sorglich und treu bei Tag und Nacht, mein Süßes, mein Liebes.
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Und dich segne der Herr, und lass’ auf Erden dir’s wohlgehn,
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Segn’ auch dein zukünft’ges Geschlecht, und erheb’ es zu Ehren,
798 
Ewiglich bleib’ und immerdar sein herrliches Erbtheil
799 
Was die Mutter besaß, die Liebe, welche mit Freuden
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Sich in Leben und Tod hingiebt, denn sie ist das Höchste.
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Also segnete sie das Kind, und was Sie gesprochen
802 
Herrlicher ward es erfüllt, als je es ihr Busen geahnet,
803 
Denn aus solchem Geschlecht entsproßte David, entsproßt’ auch
804 
Er, der göttliche Mensch, der menschliche Gott, der herabkam
805 
Zu erlösen die Welt, und aus Liebe dem Kreuzestode
806 
Sich hingab, den erneuerten Bund der Gnade zu schließen.

Details zum Gedicht „Ruth“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
806
Anzahl Wörter
7693
Entstehungsjahr
1805/1823
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Ruth“ des Autors Carl Streckfuß. Im Jahr 1778 wurde Streckfuß in Gera geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1823 zurück. In Halle ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Klassik, Romantik oder Biedermeier zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 806 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 7693 Worte. Carl Streckfuß ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf der Reise“, „Beruf“ und „Bey der Hochzeit des Hrn. Schultz“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ruth“ weitere 50 Gedichte vor.

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Zum Autor Carl Streckfuß sind auf abi-pur.de 50 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.