Rothe Weihnachten von Rudolf Lavant

Wie seinen Arm im Licht des jungen Tages
Der Zecher seufzend auf die Tafel stemmt,
Die man im wüsten Toben des Gelages
Mit Blut der Reben achtlos überschwemmt;
Wie in die Hand er müde senkt die Stirne,
Und wie ein Frösteln seinen Leib durchbebt
Und wie ihm leise schaudert vor der Dirne,
Die stieren Blicks das Glas noch immer hebt;
 
Wie er sich schämt, daß dem verbuhlten Flüstern
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Er Nachts gelauscht – wie er in Ueberdruß
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Sie von sich stößt, die ihm die Lippe lüstern
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Noch immer bietet zu verbotnem Kuß;
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Und wie, voll Ekels vor dem Wein, der Schlaffe
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Das Glas, das vor ihm, hastig von sich stößt
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Und gierig ein aus blitzender Karaffe
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Des Wassers kalte, reine Fluth sich flößt –
 
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So schüttelt langsam ab des Rausches Bande,
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Von Frost durchrieselt, müde, stumpf und bleich,
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Und so besinnt sich auf die eigne Schande
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Das arme Volk im neuen Deutschen Reich.
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Es weist zurück in Ungeduld und Grauen
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Den Taumelkelch, mit Lolch und Mohn bekränzt,
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Und runzelt drohend seine dunklen Brauen,
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Wenn er ihm gleißend vor der Lippe glänzt.
 
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Es ist der Lüge satt, die ihm geschmeichelt,
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Die es berauscht, die seinen Blick verhängt,
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Die ihm die Wange dirnenhaft gestreichelt
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Und immer dichter sich an ihn gedrängt.
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Der Rausch der Siege und der Macht – verflogen!
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Die goldne Zeit, die man verhieß – ein Schein!
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Wie plump und frech die Presse dich betrogen –
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Mein armes Volk, siehst du es endlich ein?
 
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Nun hörst du wieder auf der Wahrheit Stimme,
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Die Trommelwirbel lange übertäubt,
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Und wider die und deren Wort die schlimme
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Verführerin in wildem Haß sich sträubt.
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Laß sie nur immer durch die Zähne zischen,
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Laß sie nur zetern, bis die Kraft ihr schwand –
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Von ihren Wangen wird die Schminke wischen,
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Die lügnerische, strenger Wahrheit Hand.
 
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Wohl steht sie höhnisch lächelnd da – es gleißen
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Die falschen Steine – groß ist ihre Macht,
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Die Wahrheit aber wird vom Leibe reißen
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In Fetzen ihr die angemaßte Pracht,
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Und wie sie nieder jetzt zu treten trachtet,
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Was schlicht und edel, wahr und frei und rein,
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So wird mit Recht sie von der Welt verachtet
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Und wie die Pest dereinst gemieden sein.
 
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Wir sind die Plänkler, und voraus zu streifen
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Durch Busch und Hecken, brechen rasch wir auf
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Und lassen lustig unsre Kugeln pfeifen,
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Im Schleichen jetzt und dann im vollen Lauf,
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In einen Graben wirft sich rasch die Kette
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Und sendet knatternd Schuß auf Schuß hervor
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Und plötzlich pflanzt sie auf die Bayonnette
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Und springt in wildem Ungestüm empor.
 
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Doch folgt den Plänklern, die den Kampf begonnen,
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Von fern in Massen dunkel, tief und schwer
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Und näher dann in glitzernden Kolonnen
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Mit Sang und Klang und Trommelschlag das Heer,
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Und donnernd schleudert seine Eisenbälle
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Es in der Lüge Veste, hochgethürmt,
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Bis es zuletzt die schuttgewordnen Wälle
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Mit tausendstimm’gem Siegesruf erstürmt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.7 KB)

Details zum Gedicht „Rothe Weihnachten“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
464
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

„Rothe Weihnachten“ ist ein Gedicht von Rudolf Lavant, der von 1844 bis 1915 lebte. Es stammt demnach aus dem 19. bis 20. Jahrhundert, genauer datiert lässt es sich aufgrund des Textes leider nicht.

Allein vom Titel her, könnte man annehmen, dass das Gedicht sich mit dem Weihnachtsfest beschäftigt. Tatsächlich geht es jedoch um Themen wie Gesellschaftskritik, Politik, Resignation und Hoffnung.

Das lyrische Ich nutzt die Metapher des Zechers, welcher sich schämt über sein Gelage, Gefühle wie Scham, Abscheu und Reue empfindet und darum augenscheinlich versucht, sich zu bessern. Das „arme Volk“ des „neuen Deutschen Reiches“ wird mit dem Zecher verglichen. Es scheint ebenfalls in einer Art Rauschzustand und unter dem Einfluss von Lügen und Betrug zu sein. Das Volk erkennt jedoch seine Schande, weist den „Taumelkelch“ zurück und sucht die Wahrheit.

Die Form des Gedichts besteht aus acht Strophen mit jeweils acht Versen - eine einheitliche und gut strukturierte Form, die der Komplexität des Themas jedoch gerecht wird. Die Sprache ist bildhaft und metaphorisch, aber dennoch direkt und anschaulich. Lavant nutzt keine modernen oder umgangssprachlichen Ausdrücke, was das Gedicht ernst und gewichtig wirken lässt.

Im Laufe des Gedichts entwickelt sich eine deutliche Kritik an der Presse und der „Verführerin“, welche den Rausch des Volkes mit Lügen und Betrug aufrechterhält. Diese wird jedoch der Wahrheit weichen müssen, die rein und ehrlich ist. Das Gedicht endet mit bildhaften Beschreibungen einer Revolution oder eines Aufstands, wo das Volk kämpft und letztendlich die „Lüge“ besiegt.

Insgesamt kann „Rothe Weihnachten“ als anklagendes und zugleich hoffnungsvolles Gedicht gelesen werden. Es kritisiert die gesellschaftlichen Zustände und die Macht der Lügen, ruft aber auch zur Besinnung und zum Handeln auf. Es ist ein Appell an die Integrität und Wahrheit, gegen die keine Lüge oder Macht bestehen kann. Es handelt sich um ein politisch und gesellschaftlich engagiertes Gedicht, das die Hoffnung auf eine bessere und ehrlichere Gesellschaft zum Ausdruck bringt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Rothe Weihnachten“ ist Rudolf Lavant. Im Jahr 1844 wurde Lavant in Leipzig geboren. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Stuttgart. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 464 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 64 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rudolf Lavant sind „An die Frauen“, „An die alte Raketenkiste“ und „An unsere Feinde“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Rothe Weihnachten“ weitere 96 Gedichte vor.

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