Rechnungsrates verregnete Reise von Joachim Ringelnatz

Und wie ich vom Regen begossen
Die Wegweiser las,
Da lag ein Hemd, wie erschossen,
Zum Bleichen im Gras.
 
Ich dachte: Zweifellos leben
Hier Menschen und leben nicht schlecht.
Und sah das Hemd und daneben
Ein Haus. Also hatte ich recht.
 
Ich wollte mich selber beklagen,
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Zog bitter mein Los in Vergleich,
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Doch machte das Mißbehagen
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Im Regen mich weich.
 
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Mann soll sich nichts selber verleiden.
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Und Mißgunst ist immer wie Rost.
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Ich gab unter Schwierigkeiten
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Eine Depesche zur nächsten Post:
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„Erwarte für morgen Montag früh
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Den Mann mit dem accent aigu.“
 
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Zwar ist es im Grunde ein kleiner
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Umstand, aber er quält,
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Daß nun seit Jahren schon meiner
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Schreibmaschine der Rechtsknüppel fehlt.
 
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Man muß die Natur nur erfassen,
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Wie immer das Wetter auch sei.
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Bewußt, den Zug zu verpassen,
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War ich doch ruhig dabei.
 
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Ich fuhr also heim. Denn, was blieb mir
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Sonst übrig? Man ist nicht Herr seiner Zeit.
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Meine Stiefnichte schrieb mir:
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Es habe in Bozen sogar geschneit.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Rechnungsrates verregnete Reise“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
161
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht ist von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettisten, der von 1883 bis 1934 lebte. Diese Zeitspanne fällt in die Epoche der Moderne, wobei das Gedicht wahrscheinlich in den 1920ern oder 1930ern entstanden ist.

Auf den ersten Eindruck spiegelt das Gedicht eine Art melancholischer Gelassenheit mit einem Hauch von Humor gegenüber dem Schicksal und dem Alltag wider. Ringelnatz ist bekannt für seine skurrilen und absurden Gedichte, und auch hier gibt es absurde Elemente, etwa das im Regen liegende, „erschossene“ Hemd.

Das lyrische Ich des Gedichts ist unterwegs, es regnet stark. Während des Reisens findet er merkwürdige Anzeichen von menschlicher Präsenz, wie das im Regen liegende Hemd. Er macht philosophische Reflexionen über das Leben, bemerkt seine Neigung zur Beschwerde und Selbstmitleid, aber schließlich kommt er zur Erkenntnis, dass diese Gefühle unnütz sind. Es gibt Hinweise darauf, dass das lyrische Ich ein Büroangestellter oder ähnliches ist, wie die Telegrafennachricht, die er verschickt, und die Tatsache, dass es ihm schwer fällt, ohne den „Rechtsknüppel“ seiner Schreibmaschine zu arbeiten. Am Ende kehrt er nach Hause zurück und erhält eine Nachricht von seiner Stiefnichte, die ihn informiert, dass es in Bozen geschneit hat. Dies lässt auf Distanz zwischen dem lyrischen Ich und seiner Familie schließen.

Die Struktur des Gedichts besteht aus sieben Strophen, von denen die meisten vier Verse haben. Die vierte Strophe ist mit sechs Versen die längste. Insgesamt hat das Gedicht eine eher locker formale Struktur. Die Sprache ist direkt und informell, mit Alltagssprache und umgangssprachlichen Ausdrücken. Es gibt jedoch auch kreative Metaphern, wie das „erschossene“ Hemd, die dem Gedicht Tiefe und Reichtum verleihen.

Insgesamt interpretiere ich das Gedicht als eine humorvolle und ironische Reflexion auf das Leben und die alltäglichen Widrigkeiten. Das lyrische Ich nimmt seine Missgeschicke und Schwierigkeiten mit Humor und einer gewissen stoischen Akzeptanz hin. Und das „erschossene“ Hemd könnte als Metapher für das lyrische Ich selbst gesehen werden - zerknittert und mitgenommen, aber immer noch da und bereit, seinen Weg fortzusetzen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Rechnungsrates verregnete Reise“ ist Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Im Jahr 1928 ist das Gedicht entstanden. In Berlin ist der Text erschienen. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne oder Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 161 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 30 Versen. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „Abschied von Renée“, „Abschiedsworte an Pellka“ und „Afrikanisches Duell“. Zum Autor des Gedichtes „Rechnungsrates verregnete Reise“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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