Rabbi Löw von Rainer Maria Rilke
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»Weiser Rabbi, hoher Liva, hilf uns aus dem Bann der Not: |
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heut gibt uns Jehova Kinder, morgen raubt sie uns der Tod. |
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Schon faßt Beth Chaim nicht die Scharen, und kaum hat der Leichenwart |
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eins bestattet, nahen andre Tote; Rabbi, das ist hart.« |
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Und der Rabbi: »Geht und schickt mir einen Bocher rasch herein.« – |
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So geschiehts : »Wagst du nach Beth Chaim diese Nacht dich ganz allein?« |
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»Du befiehlst es, weiser Meister!« – »Gut, so hör, um Mitternacht |
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tanzen all die Kindergeister auf den grauen Steinen sacht. |
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Birg dich dorten im Gebete, und wenn Furcht dein Herz beklemmt. |
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streif sie ab: Du raubst dem nächsten Kinde kühn sein Leichenhemd. |
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Raubst es, – bringst es her im Fluge, her zu mir! Begreifst du wohl?« |
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»Wie du heißest tun mich, Meister, tu ich!« klingt die Antwort hohl. |
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(2) |
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Mitternacht und Mondgegleiße, – |
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... und es stürzt der totenblasse |
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Bocher bebend durch die Gasse, |
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in der Hand das Hemd, das weiße. |
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Da jetzt ... sind das seine Schritte? ... |
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Jach kehrt er zurück das bleiche |
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Antlitz: Weh, die Kindesleiche |
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folgt ihm nach, im Aug die Bitte: |
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»... Gieb das Linnen, ohne Linnen |
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lassen mich nicht ein die Geister ...« |
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Und der Bocher, halb von Sinnen, |
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reicht es endlich seinem Meister. |
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Und schon naht der Geist mit Klagen ... |
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»Sag, was sterben hundert binnen |
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Tagen? – Kind, du mußt es sagen, |
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früher darfst du nicht von hinnen.« |
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So der Rabbi. – »Wehe, wehe«, |
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ruft der Geist, »aus unserm Stamme |
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haben zwei entehrt der Ehe |
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keusche, reine Altarflamme! |
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Hier die Namen! – Sucht nicht fremde |
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Ursach, daß euch Tod beschieden ...« |
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Und der Rabbi reicht das Hemde |
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jetzt dem Kinde: »Zieh in Frieden!« |
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(3) |
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Kaum, daß aus dem Nachtkelch maijung |
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stieg der Tag in rosgem Licht, |
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hielt der Rabbi schon Gericht, – |
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und der Unschuld ward Befreiung. |
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Mit der Geißel des Gesetzes |
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brandmarkt er die Sünderstirn; – |
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langsam löste jedes Hirn |
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sich vom Bann des Fluchgenetzes. |
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Manches Paar war da erschienen, |
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dankerfüllt, daß Gott verzieh, |
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und der Weise segnet sie. – |
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Freude lag auf aller Mienen. |
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Nur der Bocher warf, der bleiche, |
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sich im Fieber hin und her ... |
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Doch nach Beth Chaim lange mehr |
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trug man keine Kindesleiche. |
Details zum Gedicht „Rabbi Löw“
Rainer Maria Rilke
15
54
344
nach 1891
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Rabbi Löw“ stammt vom berühmten deutschsprachigen Dichter Rainer Maria Rilke, der von 1875 bis 1926 lebte. Es ist daher in der Epoche des Symbolismus und der beginnenden Moderne anzusiedeln.
Zu Beginn des Gedichts spricht eine Person den Rabbi Löw an und schildert ihm die schwere Notlage der Gemeinschaft: Kinder werden geboren und sterben am nächsten Tag. Der Tod ist allgegenwärtig und der Friedhof kann die Menge der Toten kaum aufnehmen. Der Rabbi Löw wird um seine Hilfe gebeten.
In den folgenden Strophen ordnet der Rabbi einer jungen Person, einem sogenannten Bocher, an, ein Leichenhemd von einem Kindergeist zu stehlen und ihm zu bringen. Der Auftrag wird durchgeführt, obwohl er großer Angst und Schrecken verursacht. Nach dem Raub verfolgt der Kindergeist den Bocher, flehend um die Rückgabe des Hemds.
Der Geist wird schließlich zum Rabbi gebracht, der ihm sagt, dass er nicht gehen kann, bevor er seine Todesursache preisgibt. Der Geist offenbart, dass zwei Mitglieder der Gemeinschaft die Ehe entehrt haben. Der Rabbi gibt dem Geist das gestohlene Leichenhemd zurück, damit es in Frieden ziehen kann.
Folgend hält der Rabbi Gericht über die beiden schuldigen Personen und markiert sie als Sünder. Nach dieser Gerechtigkeitsübung löst sich der Todesbann von der Gemeinschaft ab, sodass keine Kinder mehr sterben.
Das lyrische Ich in diesem Gedicht fungiert als allwissender Erzähler, der die Handlungen und Interaktionen der Charaktere schildert. Es wird ein düsteres und trauriges Szenario voller Tod und Unheil gezeichnet, in dem der Rabbi als Hoffnungsträger und Retter auftritt.
Das Gedicht folgt einer klaren formalen Struktur mit stetig vierzeiligen Strophen. Die Sprache ist teils archaisch und mystisch, was die Gruselatmosphäre des Gedichts unterstreicht. Der Gebrauch jiddischer und hebräischer Begriffe wie „Bocher“ und „Beth Chaim“ verankert das Gedicht fest im jüdischen kulturellen Kontext. Gleichzeitig sind die Verse geprägt von einer klaren und bildhaften Sprache, die die Handlung eindringlich vor Augen führt.
Zusammenfassend ist „Rabbi Löw“ ein tiefgründiges Gedicht, das die Macht des Glaubens und der Spiritualität in Zeiten der Not thematisiert. Trotz seiner düsteren Thematik endet es mit einer Note der Zuversicht und der Befreiung vom Leid.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Rabbi Löw“ des Autors Rainer Maria Rilke. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Zwischen den Jahren 1891 und 1926 ist das Gedicht entstanden. Frankfurt am Main ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 54 Versen mit insgesamt 15 Strophen und umfasst dabei 344 Worte. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Allerseelen“, „Als ich die Universität bezog“ und „Am Kirchhof zu Königsaal“. Zum Autor des Gedichtes „Rabbi Löw“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.
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