Pygmalion von Johann Wolfgang von Goethe

Eine Romanze

Es war einmal ein Hagenstolz,
Der hieß Pygmalion;
Er machte manches Bild von Holz
Von Marmor und von Tohn.
 
Und dieses war sein Zeitvertreib,
Und alle seine Lust.
Kein junges schönes sanftes Weib
Erwärmte seine Brust.
 
Denn er war klug und furchte sehr
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Der Hörner schwer Gewicht;
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Denn schon seit vielen Jahren her
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Traut man den Weibern nicht.
 
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Doch es sey einer noch so wild,
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Gern wird er Mädgen sehn.
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Drum macht’ er sich gar manches Bild
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Von Mädgen jung und schön.
 
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Einst hatt’ er sich ein Bild gemacht,
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Es staunte, wer es sah;
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Es stand in aller Schönheit Pracht
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Ein junges Mädgen da.
 
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Sie schien belebt, und weich, und warm,
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War nur von kaltem Stein;
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Die hohe Brust, der weisse Arm
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Lud zur Umarmung ein.
 
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Das Auge war empor gewandt,
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Halb auf zum Kuß der Mund.
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Er sah das Werk von seiner Hand,
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Und Amor schoß ihn wund.
 
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Er war von Liebe ganz erfüllt,
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Und was die Liebe thut.
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Er geht, umarmt das kalte Bild,
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Umarmet es mit Glut.
 
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Da trat ein guter Freund herein,
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Und sah dem Narren zu,
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Sprach: Du umarmest harten Stein,
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O welch ein Thor bist du!
 
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Ich kauft’ ein schönes Mädgen mir,
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Willst du, ich geb’ dir sie?
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Und sie gefällt gewislich dir
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Weit besser, als wie die.
 
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Sag’ ob du es zufrieden bist —
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Er sah es nun wohl ein,
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Ein Mädgen, das lebendig ist,
44 
Sey besser als von Stein.
 
45 
Er spricht zu seinem Freunde, ja.
46 
Der geht und holt sie her.
47 
Er glühte schon eh er sie sah,
48 
Jetzt glüht er zweymal mehr.
 
49 
Er athmet tief, sein Herze schlug,
50 
Er eilt, und ohne Trau
51 
Nimmt er - Man ist nicht immer klug,
52 
Nimmt er sie sich zur Frau.
 
53 
Flieht Freunde ja die Liebe nicht,
54 
Denn niemand flieht ihr Reich:
55 
Und wenn euch Amor einmal kriegt,
56 
Dann ist es aus mit euch.
 
57 
Wer wild ist, alle Mädgen flieht,
58 
Sich unempfindlich glaubt,
59 
Dem ist, wenn er ein Mädgen sieht,
60 
Das Herze gleich geraubt.
 
61 
Drum seht oft Mädgen, küsset sie,
62 
Und liebt sie auch wohl gar,
63 
Gewöhnt euch dran, und werdet nie
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Ein Thor, wie jener war.
 
65 
Nun, lieben Freunde, merkt euch diß,
66 
Und folget mir genau;
67 
Sonst straft euch Amor ganz gewiß.
68 
Und giebt euch eine Frau.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Pygmalion“

Anzahl Strophen
17
Anzahl Verse
68
Anzahl Wörter
372
Entstehungsjahr
1767
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Pygmalion“ wurde von Johann Wolfgang von Goethe geschrieben, einem der bedeutendsten Dichter Deutschlands, der von 1749 bis 1832 lebte. Das Gedicht selbst lässt sich nicht genauer datieren, es liegt aber im Kontext von Goethes Gesamtwerk im Zeitraum der Klassik, also zwischen 1786 und 1832.

Auf den ersten Blick erinnert das Gedicht an eine Erzählung oder ein Märchen, denn der Beginn „Es war einmal“ weist auf eine nicht zeitgebundene Geschichte hin. Dem lyrischen Ich, das die Geschichte erzählt, geht es jedoch um eine moralische Botschaft, die in einer humorvollen, fast satirischen Form dargelegt wird.

Der Inhalt des Gedichts dreht sich um die Geschichte des Bildhauers Pygmalion, der statt realen Frauen, lieber Bilder von ihnen aus unterschiedlichen Materialien macht. Die Angst vor der Enttäuschung und vor der Untreue der Frauen treibt ihn dazu, seine Liebe auf seine eigenen Kunstwerke zu richten. Doch die Liebe zu einer seiner Skulpturen überkommt ihn und er umarmt es mit Leidenschaft. Ein Freund verspottet ihn und gibt ihm schließlich eine lebende Frau. Er erliegt der Versuchung und heiratet diese Frau, was ihn schließlich selbst zum „Narren“ macht.

Die Bedeutung des Gedichts besteht aus einer warnenden Botschaft des lyrischen Ichs über die Unausweichlichkeit und Übermacht der Liebe. Es empfiehlt, sich nicht vollkommen gegen die Liebe zu verschließen, denn letztlich würde man doch ihr erliegen.

In sprachlicher und formalen Hinsicht folgt das Gedicht einem klaren Muster. Es besteht aus 17 Strophen mit jeweils vier Versen, die sich im Kreuzreim abwechseln. Der Sprachstil ist einfach und direkt, um die komische und leicht satirische Natur der Botschaft zu unterstützen. Goethe benutzt humorvolle und leicht übertriebene Bilder, um seine Botschaft zu vermitteln. Trotz der Einfachheit und Direktheit der Sprache gelingt es ihm, eine komplexe und tiefe Botschaft auf lyrische Weise darzustellen.

Insgesamt ist „Pygmalion“ ein humorvolles und leicht satirisches Gedicht, das eine ernsthafte Botschaft über die Kraft der Liebe und die Gefahr der vollständigen Vermeidung derselben vermittelt. Es kritisiert die Vermeidung der Realität und die Flucht in die idealisierte Welt der Kunst als Ausweg aus der Komplexität der menschlichen Beziehungen. Gleichzeitig warnt es vor den Folgen einer solchen Flucht. Das lyrische Ich mahnt dazu, das echte Leben und die Liebe nicht zu meiden, sondern sich ihnen mit all ihren Höhen und Tiefen zu stellen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Pygmalion“ ist Johann Wolfgang von Goethe. Geboren wurde Goethe im Jahr 1749 in Frankfurt am Main. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1767 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Der Schriftsteller Goethe ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Literaturepoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Auflehnen gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Schriftsteller im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die alten Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Das Zentrum der Weimarer Klassik lag in Weimar. Häufig wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Die Autoren der Klassik wollten die antiken Stoffe aufleben lassen. Mit der antiken Kunst beschäftigte sich Goethe während seiner Italienreise. Die Antike gilt nun als Ideal, um Harmonie und Vollkommenheit erreichen zu können. Charakteristisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Die Dichter haben in der Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die Hauptvertreter der Klassik sind Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Einen künstlerischen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Arbeit gab es jedoch nur zwischen Schiller und Goethe.

Das Gedicht besteht aus 68 Versen mit insgesamt 17 Strophen und umfasst dabei 372 Worte. Die Gedichte „Alexis und Dora“, „Am 1. October 1797“ und „Amytnas“ sind weitere Werke des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Zum Autor des Gedichtes „Pygmalion“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.

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