Psalm von Georg Trakl

Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee,
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln.
Die Männer führen kriegerische Tänze auf.
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen,
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.
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* * *
11 
Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen.
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Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an.
13 
Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters,
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Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft.
15 
Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut!
16 
Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten.
17 
Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen.
18 
An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende.
19 
Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf.
20 
* * *
21 
Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen.
22 
Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen.
23 
Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach.
24 
Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab.
25 
Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen.
26 
Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher.
27 
Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels.
28 
Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee,
29 
Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden.
30 
* * *
31 
Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt.
32 
In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen.
33 
Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer.
34 
Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln.
35 
Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.
36 
Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit.
37 
Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei
38 
Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder.
39 
In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.
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* * *
41 
Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.4 KB)

Details zum Gedicht „Psalm“

Autor
Georg Trakl
Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
41
Anzahl Wörter
356
Entstehungsjahr
1913
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Psalm“ stammt von Georg Trakl, einem österreichischen Dichter, der von 1887 bis 1914 lebte. Trakl ist ein Vertreter des Expressionismus, einer künstlerischen Bewegung, die um das Jahr 1905 begann und bis etwa 1920 andauerte.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht düster und beinhaltet Bilder der Zerstörung und des Verlustes. Allerdings gibt es vereinzelt auch Hoffnungsschimmer dargestellt durch Natursymbole oder Musik.

Das Gedicht besteht aus einer Folge von Bildern, die zusammen eine Art Mosaik ergeben. Die Bilder reichen von einem ausgelöschten Licht über einen verlassenen Heidekrug bis hin zu kriegerischen Tänzen auf einer Südseeinsel. Es geht um Verlust, Zerstörung, das Aufleben von Natur und Musik, menschliches Leiden und Transzendenz.

Die Form des Gedichts ist ungewöhnlich, da es weder mit klassischen Versmaßen noch mit Reimschemata arbeitet. Die 41 Verse sind eher prosaisch gehalten. Der Einbau von vier Leerzeichen, die wie Pausen wirken, teilen das Gedicht in fünf Abschnitte. Diese Unterbrechungen könnten als Atempausen oder zur Schaffung eines dramatischen Effekts dienen.

Die Sprache des Gedichts ist sehr bildlich und reich an Symbolen. Trakl nutzt dies, um eine Atmosphäre von Schönheit, Verlust und Verzweiflung zu erzeugen. Die häufige Verwendung der Es-ist-Form gibt den Versen etwas Behauptendes und gleichzeitig Rätselhaftes. Wiederholt tauchen Farbgebungen auf, aber auch Archaismen wie „Schädelstätte“ oder „Genesende“.

Das lyrische Ich ist in dem Gedicht nicht explizit präsent, es tritt eher als Beobachter auf. Seine Wahrnehmungen und Empfindungen müssen aus den Bildern und Symbolen des Gedichts herausgelesen werden.

Fazit: Das Gedicht „Psalm“ von Georg Trakl ist geprägt durch eine Reihe von starken und oft düsteren Bildern. Die Form und der Verzicht auf traditionelle Reimschemata unterstreichen die expressive, der Bewegung des Expressionismus entsprechende Sprache des Dichters. Es zeigt das menschliche Leben mit all seinen Facetten - von Freude und Schönheit bis hin zu Verzweiflung und Tod. Es scheint, dass das Gedicht auch die Unfähigkeit des lyrischen Ichs thematisiert, die Welt in ihrer Komplexität zu begreifen.

Weitere Informationen

Georg Trakl ist der Autor des Gedichtes „Psalm“. Der Autor Georg Trakl wurde 1887 in Salzburg geboren. 1913 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Trakl ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 41 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 356 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Georg Trakl sind „Die Bauern“, „Die Raben“ und „Die Ratten“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Psalm“ weitere 60 Gedichte vor.

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