Prolog zu dem Buch ›Anatol‹ von Hugo von Hofmannsthal

Hohe Gitter, Taxushecken,
Wappen nimmermehr vergoldet,
Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd …
… Knarrend öffnen sich die Tore. –
Mit verschlafenen Kaskaden
Und verschlafenen Tritonen,
Rokoko, verstaubt und lieblich,
Seht … das Wien des Canaletto,
Wien von siebzehnhundertsechzig …
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… Grüne, braune, stille Teiche,
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Glatt und marmorweiß umrandet,
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In dem Spiegelbild der Nixen
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Spielen Gold- und Silberfische …
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Auf dem glattgeschornen Rasen
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Liegen zierlich gleiche Schatten
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Schlanker Oleanderstämme;
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Zweige wölben sich zur Kuppel,
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Zweige neigen sich zur Nische
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Für die steifen Liebespaare,
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Heroinen und Heroen …
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Drei Delphine gießen murmelnd
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Fluten in ein Muschelbecken …
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Duftige Kastanienblüten
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Gleiten, schwirren leuchtend nieder
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Und ertrinken in den Becken …
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… Hinter einer Taxusmauer
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Tönen Geigen, Klarinetten,
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Und sie scheinen den graziösen
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Amoretten zu entströmen,
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Die rings auf der Rampe sitzen,
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Fiedelnd oder Blumen windend,
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Selbst von Blumen bunt umgeben,
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Die aus Marmorvasen strömen:
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Goldlack und Jasmin und Flieder …
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… Auf der Rampe, zwischen ihnen
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Sitzen auch kokette Frauen,
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Violette Monsignori …
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Und im Gras, zu ihren Füßen
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Und auf Polstern, auf den Stufen
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Kavaliere und Abbati …
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Andre heben andre Frauen
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Aus den parfümierten Sänften …
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… Durch die Zweige brechen Lichter,
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Flimmern auf den blonden Köpfchen,
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Scheinen auf den bunten Polstern,
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Gleiten über Kies und Rasen,
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Gleiten über das Gerüste,
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Das wir flüchtig aufgeschlagen.
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Wein und Winde klettert aufwärts
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Und umhüllt die lichten Balken,
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Und dazwischen farbenüppig
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Flattert Teppich und Tapete,
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Schäferszenen, keck gewoben,
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Zierlich von Watteau entworfen …
 
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Eine Laube statt der Bühne,
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Sommersonne statt der Lampen,
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Also spielen wir Theater,
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Spielen unsre eignen Stücke,
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Frühgereift und zart und traurig,
60 
Die Komödie unsrer Seele,
61 
Unsres Fühlens Heut und Gestern,
62 
Böser Dinge hübsche Formel,
63 
Glatte Worte, bunte Bilder,
64 
Halbes, heimliches Empfinden,
65 
Agonieen, Episoden …
66 
Manche hören zu, nicht alle …
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Manche träumen, manche lachen,
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Manche essen Eis … und manche
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Sprechen sehr galante Dinge …
70 
… Nelken wiegen sich im Winde,
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Hochgestielte, weiße Nelken,
72 
Wie ein Schwarm von weißen Faltern,
73 
Und ein Bologneserhündchen
74 
Bellt verwundert einen Pfau an.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.5 KB)

Details zum Gedicht „Prolog zu dem Buch ›Anatol‹“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
74
Anzahl Wörter
305
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Prolog zu dem Buch ›Anatol‹“ wurde von Hugo von Hofmannsthal verfasst, einem österreichischen Schriftsteller, der von 1874 bis 1929 lebte. Er zählt zu den bedeutendsten Vertretern der deutschsprachigen Literatur um 1900. Seit seiner Jugend schrieb er Lyrik und Dramatik und war Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Das vorliegende Gedicht kann zeitlich in die Spätphase des literarischen Impressionismus eingeordnet werden und ist ein Prolog zu seinem Bühnenwerk „Anatol“.

Auf den ersten Eindruck hin lässt das Gedicht eine sehr bildreiche, opulente Welt entstehen, die von einer gewissen nostalgischen Schönheit geprägt ist. Hofmannsthal schafft mit Worten ein Gemälde, ähnlich den malerischen Werken Canalettos, die er auch explizit erwähnt.

In dem Gedicht geht es um ein idyllisches und lebendiges Fest. Das lyrische Ich beschreibt zunächst die Szenerie eines prächtigen Gartens. Details wie „Hohe Gitter, Taxushecken“, „Wappen nimmermehr vergoldet“ oder „Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd“ erwecken eine Atmosphäre von Schönheit, Eleganz und dem Charme vergangener Zeiten. Im weiteren Verlauf des Gedichts wird der Garten als Bühne für ein Theaterstück genutzt, welches die Komödie des Lebens darstellt, umschrieben als „Komödie unsrer Seele“. Die Beteiligten sind sowohl Schauspieler als auch Zuschauer in dieser theatralischen Metapher für das Leben.

Formal besteht das Gedicht aus freien Versen ohne Reim. Die Sprache ist sehr bildhaft und enthält viele Metaphern und Symbolik. Beispielsweise steht das „Wien des Canaletto“ als Symbol für eine vergangene, ruhmreiche Epoche oder die Sänfte als Symbol für Macht und Reichtum. Auffällig ist auch der Wechsel von konkreten Beschreibungen und sinnlichen Eindrücken hin zu einer metaphorischen Sinngebung, die das Leben als Theater darstellt.

Sprachlich überzeugt das Gedicht durch die reiche Verwendung von Adjektiven, die dazu beitragen, die bildhaften und sinnlichen Eindrücke noch zu verstärken. Hingegen wird auf direkte Dialoge oder Aussagen verzichtet, die Handlung und Atmosphäre werden rein durch deskriptive Elemente und Metaphern erschaffen.

Zusammengefasst stellt Hofmannsthals „Prolog zu dem Buch ›Anatol‹“ ein beeindruckendes Beispiel für einen impressionistischen Stil in der Lyrik dar. Es zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, mit Worten ein farbenreiches und detailreiches Bild zu malen, das den Leser in eine andere Zeit und einen anderen Ort entführt. Zugleich wird diese atmosphärische Szenerie als Metapher für das Leben und die menschlichen Emotionen genutzt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Prolog zu dem Buch ›Anatol‹“ des Autors Hugo von Hofmannsthal. 1874 wurde Hofmannsthal in Wien geboren. Im Jahr 1892 ist das Gedicht entstanden. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Hofmannsthal handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 305 Wörter. Es baut sich aus 2 Strophen auf und besteht aus 74 Versen. Die Gedichte „Der Jüngling in der Landshaft“, „Der Kaiser von China spricht“ und „Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt“ sind weitere Werke des Autors Hugo von Hofmannsthal. Zum Autor des Gedichtes „Prolog zu dem Buch ›Anatol‹“ haben wir auf abi-pur.de weitere 40 Gedichte veröffentlicht.

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