Person ohne Ich von Albert Emil Brachvogel

Hast Du kaum vom Mutterschooße
Recht im Dasein Fuß gefaßt,
Wird alsbald dir ohn’ Erbarmen
Andres Wesen angepaßt.
 
Affenliebe, oder rüde
Stockphilistertyrannei
Bricht den freien Geist und Willen,
Ach dein schönstes Selbst, entzwei!
 
Eltern, Tanten Gouvernanten,
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Alles an dir renkt und rückt,
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Bis Gewohnheit, Qual und Schmerz dir
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Allen Lebensmuth geknickt;
 
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Wirst dich selber, deine Triebe,
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Zu erkennen, schnell entwöhnt,
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Bis du mit der Narrenschelle
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Und der Kette dich versöhnt,
 
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Wirst, da du dich nimmer in Dir
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Findest, nie des Lebens froh,
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Zeugst du endlich selber Kinder, –
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Machst du’s ihnen ebenso!
 
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Bis zum Bett und in den Teller,
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Weiter reicht der Blick nie aus,
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Alle Wünsche gehen schlafen,
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Ist nur Geld und Brot im Haus;
 
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Bist du endlich alt geworden
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Und den Kindern recht zur Last,
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Gehst du in das Wesenlose,
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Fast, – wie du’s verlassen hast.
 
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Ueber deinem Grabe freuen
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Erb’ und Stolataxe sich, –
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Zwar Person bist du gewesen, –
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Aber nimmermehr ein Ich!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.7 KB)

Details zum Gedicht „Person ohne Ich“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
155
Entstehungsjahr
1861
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Person ohne Ich“ wurde von Albert Emil Brachvogel verfasst, einem deutschen Schriftsteller, der von 1824 bis 1878 lebte. Das Werk stammt somit aus dem 19. Jahrhundert und liegt innerhalb der Epoche des Realismus.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht etwas düster und pessimistisch. Es befasst sich offensichtlich mit den individuellen Auswirkungen von gesellschaftlichen Normen und Konventionen auf die persönliche Identität.

Inhaltlich thematisiert das Gedicht den Lebensweg eines Individuums, das seine eigene Identität unter dem Einfluss der Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen und Normen verliert. Mit Beginn des Lebens wird dem lyrischen Ich eine fremde Identität „angepasst“. Unter der „Affenliebe“ und Tyrannei von Eltern und Erziehern wird seine Persönlichkeit geformt. Es gewöhnt sich an diese Umstände, obwohl es Schmerz und Qual empfindet. Da es seine eigene Identität nicht mehr erkennt, versöhnt es sich mit der Gesellschaft und deren Normen. Das Resultat ist ein leeres Dasein, in dem es selbst Kinder zeugt und denselben Kreislauf erneut in Gang setzt. Der Blick geht nicht über materielle Dinge wie Geld und Brot hinaus. Im Alter wird das lyrische Ich den Kindern zur Last und stirbt, ohne jemals ein eigenes „Ich“ entwickelt zu haben.

Die Aussage des lyrischen Ichs ist sehr kritisch gegenüber der Gesellschaft und ihren Normen. Es beklagt den Verlust seiner individuellen Identität und Freiheit, die durch den Zwang zur Anpassung verursacht wird. Darüber hinaus kritisiert es, dass dieser Prozess der Entpersönlichung von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Die Form des Gedichts ist in Versen und Strophen strukturiert, wobei jede Strophe aus vier Versen besteht. Die Sprache ist relativ einfach und direkter Natur, was die Botschaft des Dichters noch stärker hervorhebt. In Bezug auf den Rhythmus und Reim lässt sich keine spezifische Struktur ausmachen.

Insgesamt ist „Person ohne Ich“ eine kraftvolle Kritik an der gesellschaftlichen Norm und deren erdrückendem Einfluss auf die individuelle Identität. Es fordert Leser zur Reflexion über den Wert und die Wichtigkeit persönlicher Freiheit gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen auf.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Person ohne Ich“ des Autors Albert Emil Brachvogel. Im Jahr 1824 wurde Brachvogel in Breslau geboren. Im Jahr 1861 ist das Gedicht entstanden. In Berlin ist der Text erschienen. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epoche ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das vorliegende Gedicht umfasst 155 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 32 Versen. Zum Autor des Gedichtes „Person ohne Ich“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.

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