Das Paradies in der Wüste von Johann Gottfried Herder

„Mein Freund Antonius, der Vater mir
Und Lehrer war, mit dem ich Lebenslang
In weitester Entfernung ungetrennt
Ein Herz und Seele war; der hundertjährge Greis
(Das saget mir mein Geist,) ist jetzt gestorben.
Noch Einmal wollt’ ich ihn im Leben sehn!
Wohlan, ich will die Stäte sehen, wo
Er lebete und starb.“ – So sprach zu sich
Hilarion in Palästina, der,
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Wie sein Antonius, der Armen Freund,
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Ihr Arzt und Trost, sich selber aber hart
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Und strenge war. Er zog zur Thebaide.
 
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Durch grause Wüsten ging er; siehe da
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Erhob ein Fels sich; aus dem Felsen sprang
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Ein heller Bach, beschattet rings von Palmen.
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Am Felsen hob sich eine Traubenwand
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Empor. Wohl ausgehauen leitete
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Ein Schneckengang zur Höh’ hinauf; im Teich
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Des Baches spielten Fische. Kräuter blühten,
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Und viel gesunde Früchte prangeten
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Im Garten – ringsum ein Elysium.
 
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Verjünget wanderte Hilarion
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Hin und daher, stieg auf und ab; ihn sangen
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Die Vögel, die einst mit Antonius
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Loblieder angestimmt, den Freundesgruß,
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Und flogen ihm vertraut auf seine Schultern.
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Des Greises beide Jünger zeigten ihm
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Jedweden Lieblingsort des Heiligen,
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Dem sie gedienet. „Hier! hier betet’ er.
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Auf dieser Höhe sang er Hymnen; dort
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Pflegt’ er zu ruhen; hier arbeitet’ er.
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Den Palmenhain hat er gepflanzet, Er
 
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Die Reben sich erzogen; diesen Teich
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Hat er mit eigner Hand umdämmet. Hier,
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Die Bäum’ und Kräuter dieses Gartens sind
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Des guten Greises Kinder. Dies Geräth’
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Gebrauchte seine Hand. Komm her und sieh!
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Dies ist die Hütte, wo er sich dem Volk,
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Das zu ihm strömte, dann und wann entzog.
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Er gab dem Orte Sicherheit; das Wild,
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Waldesel, die zu naschen pflegen, was
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Sie nicht gesäet, wies er segnend weg.
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Sie trinken an dem Strom und stören nicht
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Den Garten.“
 
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„Wohl! nun zeiget mir sein Grab!“
 
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„Sein Grab ist nirgend. Wir versprachen ihm,
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Es niemanden zu zeigen: denn der Mensch
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Ist Staub, sprach er, und muß zu Staube werden.
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Feind war er jeder Leichen-ehrenden
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Aegyptischen Abgötterei.“ –
 
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„Er ruhe,
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Da wo er ruhet!“ sprach Hilarion.
 
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„O bleibe du bei uns! so baten ihn
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Die Jünger. Du, sein Freund und Schüler, bist
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Antonius anjetzt der Christenheit.
 
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„Das bin ich nicht! sprach er. Der Heilge lebt
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Bei Gott! Sein Geist in tausend Herzen; auch
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Im Eurigen. Antonius ist nicht
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Begraben, Er, der rings die Seele war
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In dieser weiten regen Gottesstadt.
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Die Wüste hat er mit Unglücklichen
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Verbannten Flüchtlingen bevölkert. Fern
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Von ihren Treibern leben sie, der Welt
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Entnommen, hier im brüderlichen Fleiß.
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Antonius geweihte Höhe zu
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Bewohnen, ziemt mir nicht. Lebt alle wohl,
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Ihr Brüder und ihr Palmenbäume, Bach
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Und Teich und Garten, jede Frucht, die Er
 
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Gepflanzt, ihr seine Vögel, lebet wohl.
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Ich nehme mir sein fröhlich Angesicht,
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Sein fröhlich Herz aus dieser Wüste mit,
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Durch sie wird jede Wüste Paradies.
 
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Er ging. Auf Cypern lebete fortan
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Hilarion in einem Garten, streng’
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Und milde wie Antonius. Er ward
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Da, wo er starb, versenket. –
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Das Paradies in der Wüste“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
76
Anzahl Wörter
474
Entstehungsjahr
1797
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht stammt von Johann Gottfried Herder, einem deutschen Dichter, Theologen und Philosophen, der von 1744 bis 1803 lebte. Herder war ein zentraler Vertreter der Weimarer Klassik und der Aufklärung. Seine Dichtungen und Gedichte waren geprägt von einer tiefen Religiosität und einem starken Interesse an der Menschheitsgeschichte. Dies lässt sich auch in dem vorliegenden Gedicht erkennen, das den Titel „Das Paradies in der Wüste“ trägt.

Auf einen ersten Blick könnte man meinen, das Gedicht erzählt einfach eine Geschichte. Aber nach einem durchdachten Lesen der Verse wird klar, dass das Gedicht vielmehr eine Metapher für Leben, Tod und Wiedergeburt ist. Der Protagonist Hilarion trauert um seinen Freund und Lehrer Antonius, einen alten Weisen. Er beschließt, den Ort, an dem er gelebt und gestorben ist, zu besuchen.

Die detaillierte Beschreibung der naturbelassenen Umgebung mit dem Palmenhain und dem Garten, den Antonius gepflegt hat, lässt das Bild eines Paradieses entstehen, den man in der Mitte einer Wüste nicht erwartet hätte. Antonius hat diesen Ort in der Wüste zu einem heiligen Ort gemacht, an dem er selbst und auch andere in Frieden und Einklang mit der Natur leben konnten. Sein Tod ist jedoch nicht das Ende – sein Geist lebt weiter in der Energie und Schönheit dieses Ortes.

Formal gesehen, folgt das Gedicht keiner strikten Reimstruktur oder festgelegtem Metrum, was typisch für die Dichtungen der Weimarer Klassik und der Aufklärung ist. Der Fokus liegt vielmehr auf der Erzählung und dem Inhalt, der durch eine bildreiche, detaillierte und emotionale Sprache zum Leben erweckt wird. Der lyrische Ich nimmt die Rolle des Beobachters und Erzählers ein und lässt den Leser durch seine Augen sehen und fühlen.

Insgesamt interpretiere ich das Gedicht als eine tiefsinnige Reflektion über Leben, Tod und die Unsterblichkeit der Seele, die trotz des physischen Todes in dem, was sie hinterlassen hat, weiterlebt. Es zeigt, dass selbst in einer scheinbar lebensfeindlichen Umgebung wie einer Wüste ein paradiesischer Ort entstehen kann, wenn Liebe, Frieden und Achtsamkeit in die Welt gebracht werden.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Das Paradies in der Wüste“. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1797 zurück. Erschienen ist der Text in Gotha. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Jugend- und Protestbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Vertreter waren meistens junge Autoren, zumeist nicht älter als 30 Jahre. In den Dichtungen wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Einer der wichtigsten Autoren der deutschen Klassik ist Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar). Seine Italienreise 1786 wird als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Johann Wolfgang von Goethe prägte die Klassik ganz wesentlich. Sein Tod im Jahr 1832 kennzeichnet gleichzeitig das Ende dieser Epoche. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Der Begriff Humanität ist prägend für die Zeit der Weimarer Klassik. Die wichtigsten inhaltlichen Merkmale der Klassik sind: Selbstbestimmung, Harmonie, Menschlichkeit, Toleranz und die Schönheit. Typisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Die Dichter haben in der Klassik auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. Schiller, Goethe, Herder und Wieland können als die Hauptvertreter der Klassik betrachtet werden. Aber nur Goethe und Schiller inspirierten und motivierten einander durch enge Zusammenarbeit und wechselseitige Kritik.

Das 474 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 76 Versen mit insgesamt 11 Strophen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Glück“, „Das Kind der Sorge“ und „Das Orakel“. Zum Autor des Gedichtes „Das Paradies in der Wüste“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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