Noctambulatio von Joachim Ringelnatz

Sie drückten sich schon beizeiten
Fort aus dem Tanzlokal
Und suchten zu beiden Seiten
Der Straße das Gast- und Logierhaus Continental.
 
So dringlich: Man hätte können glauben,
Er triebe sie vorwärts wie ein Rind.
Und doch handelten beide im besten Glauben.
Er wollte ihr nur die Unschuld rauben.
Sie wollte partout von ihm ein Kind.
 
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Da geschah es, etwa am Halleschen Tor,
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Daß Frieda über dem Knutschen und Schmusen
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Aus ihrem hitzig gekitzelten Busen
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Eine zertanzte, verdrückte Rose verlor.
 
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Und ein sehr feiner Herr, dessen Eleganz
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Nicht so rumtoben tut, folgte den beiden.
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Jedoch hielt er sich vornehm bescheiden
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Immer in einer gewissen Distanz.
 
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Er wollte ursprünglich zum Bierhaus Siechen.
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Aber nun hemmte er seinen Lauf,
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Zog die Handschuh aus, hob die Rose auf
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Und begann langsam daran zu riechen.
 
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Er wünschte aber keinen Augenblicksgenuß;
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Deshalb stieg er mit der Rose in den Omnibus.
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Derweilen war Frieda mit ihrem Soldaten
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Auf einen Kinderspielplatz geraten.
 
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Dort merkten sie nicht, wie die Nacht verstrich,
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Und daß ein unruhiger Mann mit einem Spaten
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Sie dauernd beschlich.
 
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Als sich nach längerem Aufenthalt
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Das Paar in der Richtung zur Gasanstalt
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Mit kurzen, trippelnden Schritten verlor,
 
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Sprang der unruhige Mann plötzlich hervor.
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Und fing an, eine Stelle, wo er im Sand
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Die Spur von Friedas Stiefelchen fand,
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Mit seinem Spaten herauszuheben.
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Worauf er behutsam mit zitternder Hand
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Die feuchte Form in ein Sacktuch band,
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Um sich dann leichenblaß heimzubegeben.
 
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Wie um das dümmste Mädchen
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Sich sonderbare Fädchen
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Nachts durch die Straßen ziehn –
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Die Dichter und die Maler
43 
Und auch die Kriminaler,
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Die kennen ihr Berlin.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Noctambulatio“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
259
Entstehungsjahr
1924
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das hier untersuchte Gedicht trägt den Titel „Noctambulatio“ und stammt aus der Feder des deutschen Autors Joachim Ringelnatz, der von 1883 bis 1934 lebte. Dies situates das Gedicht im Kontext des frühen 20. Jahrhunderts, einer Zeit großer gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen und Umbrüche.

Auf den ersten Blick enthüllt das Gedicht eine humorvolle und skurrile Szene, ein nächtliches Abenteuer in der Stadt. Es ist ein humorvolles, scheinbar unschuldiges Spiel in der Nacht, ein Spaziergang durch ein Berlin, das wiederum als Protagonist dargestellt wird, ebenso lebendig und voller eigener Geschichten wie die Hauptfiguren selbst.

Im Detail geht das Gedicht von Ringelnatz von einem jungen Paar aus, das sich nach einem Tanzabend auf den Weg zu einem Hotel macht. Dabei spielen sie auf charmant-unelegante Weise die traditionellen Geschlechterrollen - er möchte ihre Unschuld nehmen, sie möchte von ihm schwanger werden. Während ihres Spaziergangs im Berliner Nachtleben bemerkt sie nicht einmal, dass sie eine Rose verliert. Ein distanzierter, eleganter Herr findet und nimmt die Rose mit, während das Paar auf einen Kinderspielplatz abbiegt und dort die Nacht verbringt.

Das Ende des Gedichts zeigt den Auftritt eines unruhigen Mannes, der eine Spur des Mädchens im Sand aushebt und sie mit Zittern und bleich vor Furcht nach Hause nimmt. Das Gedicht schließt mit der Beobachtung, dass manchmal seltsame Dinge im Dunkeln geschehen, dass Berlin seine Geheimnisse hat und dass jeder, von Dichtern über Künstler bis hin zu Kriminalern, seine eigene spezifische Beziehung zu Berlin hat.

Das Gedicht ist in freien Versen mit wechselndem Metrum geschrieben, was dem lyrischen Ich ermöglicht, seine Geschichte auf natürliche und informelle Weise zu erzählen. Ringelnatz verwendet eine direkte und einfache Sprache, die dennoch voller ironischer Beschreibungen und liebevoller Details ist.

Insgesamt ist „Noctambulatio“ von Joachim Ringelnatz eine charmante Hommage an das Berliner Nachtleben, ein literarisches Spiegelbild der Stadt, dessen skurriler Humor und liebevolle Details das zeitlose Berliner Flair perfekt einfangen. Es ist eine Erinnerung daran, dass das Leben in der Stadt immer bereit ist, uns mit seinen unerwarteten Wendungen zu überraschen, und dass wir auch immer Teil dieser unglaublichen Geschichte sein können, wenn wir uns nur auf die Reise begeben.

Weitere Informationen

Joachim Ringelnatz ist der Autor des Gedichtes „Noctambulatio“. Ringelnatz wurde im Jahr 1883 in Wurzen geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1924. Der Erscheinungsort ist München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 259 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz sind „7. August 1929“, „Abendgebet einer erkälteten Negerin“ und „Abermals in Zwickau“. Zum Autor des Gedichtes „Noctambulatio“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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