Neujahrsgruß an die Geistigen Deutschlands von Kurt Tucholsky

Ihr kamt ins leise Gleiten –
die alte Zeit, sie winkt und winkt…
Ihr dürft euch über Stile streiten,
indes Ihr immer tiefer sinkt.
 
Im Schrank hängt noch ein guter Sacco,
im Bord steht noch ein Lederband.
Einst saht Ihr noch die Sadda Yacco,
Ihr wußtet, wo Mentone stand.
 
Und immer kleiner wird die Wohnung,
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und immer kleiner wird der Kreis.
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Uns alle fleddert ohne Schonung
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des Unternehmers Hungerpreis.
 
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Wann habt Ihr aus den stickigen Lüften
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zum letzen Male ausgespäht?
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Was wissen wir von fremden Düften,
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von dem, was draußen vor sich geht?
 
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Kommiß. Kommiß. Und Bureaukraten.
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Er hats geschafft, der Militär:
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Vom Volk der Denker und Soldaten
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nimmt Keiner einen Knochen mehr.
 
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Ihr repetiert die alten Lieder
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zum Ueberdruß. Die Muse schielt.
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Ein sanfter Balkan senkt sich nieder,
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in dem ihr keine Rolle spielt.
 
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Der starke Händler sitzt am Ruder,
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die Finger dick, den Nacken feist.
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Du bist ein, bleibst ein armes Luder,
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auch wenn du hübsch zu schreiben weißt.
 
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Und Frauen, Blumen, Weltenräume,
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sie blühn für Den, der stärker war.
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Schlag, Künstler, deine Purzelbäume!
32 
Du bist nicht mehr. Es fliehn die Träume…
33 
In diesem Sinn:
34 
Ein frohes Jahr –!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Neujahrsgruß an die Geistigen Deutschlands“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
34
Anzahl Wörter
189
Entstehungsjahr
1922
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Neujahrsgruß an die Geistigen Deutschlands“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutschen Schriftsteller und Journalisten, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholsky war bekannt für seinen satirischen und politisch provokanten Schreibstil im Kontext des Deutschland der Weimarer Republik.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht durch seine teils ironische und satirische Tonlage kritisch und anklagend. Tucholsky richtet sich nicht an bestimmte Individuen, sondern an eine allgemeinere Gruppe von „Geistigen Deutschlands“, die Künstler, Denker und Schriftsteller dieser Zeit.

Das Gedicht scheint eine scharfe Kritik an einer gesellschaftlichen Situation zu sein, in der das kulturelle Leben und die „geistige“ Schaffenskraft durch materiellen Mangel und wirtschaftlichen Druck eingeengt werden. Es wirft Fragen nach kultureller Identität, gesellschaftlichem Status und politischer und wirtschaftlicher Macht auf. Gleichzeitig bemängelt es die Selbstzufriedenheit und den Mangel an Perspektive innerhalb dieser Gruppe der „Geistigen“.

Das lyrische Ich stellt eine gewisse Nostalgie und einen Mangel an Realitätssinn der geistigen Klasse fest, die durch ihre Isolierung und Fokussierung auf Dispute über Stile und Traditionen, den Kontakt zur tatsächlichen gesellschaftlichen Realität verloren haben. Es thematisiert die Schwierigkeiten von Künstlern in einem Umfeld, das von wirtschaftlichen und politischen Interessen dominiert ist. Es thematisiert dabei Themen wie Armut, Entfremdung und kulturellen Abstieg.

Formell besteht das Gedicht aus acht Strophen, mit einer Versanzahl, die zwischen vier und sechs wechselt. Tucholsky benutzt einfache, direkt verständliche Sprache, die den Kontrast zur oft hoch stilisierten Sprache von „geistigen“ Diskursen anzeigt. Ironie und Satire sind wichtige stilistische Mittel, die Tucholsky nutzt, um seine kritischen Gedanken zu vermitteln. Es ist dabei auffällig, dass das Gedicht mit einem sarkastischen Neujahrsgruß endet, der eine weitere Ebene der Kritik und Abrechnung hinzufügt.

Insgesamt betrachtet ist Tucholskys „Neujahrsgruß an die Geistigen Deutschlands“ eine scharfe Kritik an den Lebensumständen und der gesellschaftlichen Position von Künstlern und Geisteswissenschaftlern in der Weimarer Republik. Es ist ein Aufruf, auf die sozialen Realitäten zu achten und aktiver und engagierter auf die gesellschaftliche Situation zu reagieren.

Weitere Informationen

Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „Neujahrsgruß an die Geistigen Deutschlands“. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1922 zurück. Der Erscheinungsort ist Berlin. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg von 1914-1918 und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Bei der Neuen Sachlichkeit war der Inhalt der Texte wichtiger als die Form. Die Autoren dieser Bewegung wollten mit ihren Texten möglichst viele Menschen aus allen sozialen Schichten ansprechen. Aus diesem Grund wurden die Texte in einer alltäglichen Sprache verfasst und wurden oft im Stile einer dokumentarisch-exakten Reportage geschrieben. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das im Jahr 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. In Folge dessen flohen viele Schriftsteller aus Deutschland. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Themen der Exilliteratur Deutschlands lassen sich zunächst in zwei Gruppen einteilen. Einige Schriftsteller fühlten sich in ihrer neuen Heimat nicht zu Hause, hatten Heimweh und wollten einfach in ihr altes Leben vor dem Nationalsozialismus zurückkehren. Oft konnten sie im Ausland nicht mehr ihrer Arbeit als Schriftsteller nachgehen, da sie nur in Deutsch schreiben konnten, was im Ausland aber niemand verstand. Heimweh und ihre Liebe zum Mutterland sind die thematischen Schwerpunkte in ihren Werken. Die anderen Schriftsteller wollten sich gegen Nazideutschland wehren. Man wollte zum einen die Welt über die Grausamkeiten in Deutschland aufklären. Zum anderen aber auch den Widerstand unterstützen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 189 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 34 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „Abschied von der Junggesellenzeit“, „Achtundvierzig“ und „All people on board!“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Neujahrsgruß an die Geistigen Deutschlands“ weitere 136 Gedichte vor.

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