Natur und Kunst von Louise Otto-Peters

Wie ist der Wald zur heil’gen Feier
Des Frühlings festlich neu geschmückt,
Und grüßt ihn rauschend als Befreier,
Den Siegeskranz aufs Haupt gedrückt.
 
Als sei ein Zauber ausgegossen
Herabgeströmt vom Himmelszelt!
So, duft- und gold- und glanzumflossen
Erscheint die neu verjüngte Welt!
 
Und schön gesellt solch neues Werden
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Zur Blumenpracht den Blütenbaum,
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Und Lerch’ und Nachtigall Gefährten
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Und Tag und Nacht ein Wonnetraum!
 
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All überall ein reiches Leben,
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Ein Jubelfest in Wald und Flur,
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Die schönste Form, das kühnste Streben
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Umfließt ein sonniger Azur.
 
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All überall Verklärungsschimmer
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Auf jeder Höh’, in jedem Thal,
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Im Mondenlicht, im Sterngeflimmer
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So wie im goldnen Sonnenstrahl.
 
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In diese Wonneflut zu tauchen,
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Zu trinken Duft und Maienthau –
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Der Seele Sehnen auszuhauchen
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In diese Lüfte süß und lau. –
 
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Kann mehr ein Sterblicher begehren,
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Als so in Mailust zu vergehn? –
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Der herrlichen Natur zu Ehren
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In Blüten wieder zu erstehn!
 
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II.
 
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Wohl ist es schön in Maientagen
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Am Herzen der Natur zu ruhn,
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Doch schöner ist das kühne Wagen:
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Der Schönheit Wunder selbst zu thun.
 
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Wie schön es auch im Mai zu sterben
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Um aufzublühn zur Frühlingszeit:
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Ein stolzer Geist will mehr erwerben,
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Will höhere Unsterblichkeit!
 
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Drum ward ein magisch Band gewoben,
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Das Erd und Himmel gleich umschließt,
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Und als ein heilger Strahl von oben
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Ob unserm Dasein sich ergießt.
 
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Der Kunst geheiligt Offenbaren,
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Kam darum in die Menschenwelt,
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Daß sie zum Ewig-Schönen, Wahren,
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Die Augen uns geöffnet hält!
 
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Halb unser Selbst, und halb ein Wunder
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Begegnet uns dies Himmelskind,
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Die Seele geht in Wonne unter
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Ob sie doch nur sich selbst gewinnt!
 
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Sich selbst gewinnen und erheben,
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Dies ist der Kunst erhabnes Sein,
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In ihr allein ruht Glück und Leben,
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Sie ist der Gottheit Wiederschein.
 
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Mag alles sonst auf Erden wanken,
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Gefangen sein in Raum und Zeit:
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Für ihre göttlichen Gedanken
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Erzwingt die Kunst Unsterblichkeit.
 
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Und darum Heil den Weihestunden
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Der Offenbarung ihrer Macht:
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Der Mensch, der so den Gott gefunden,
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Hat die Erlösung mit vollbracht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Natur und Kunst“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
61
Anzahl Wörter
321
Entstehungsjahr
1860-1870
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Natur und Kunst“ stammt von der deutschen Dichterin und Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters, die von 1819 bis 1895 lebte. Die Dichterin gehört damit zur literarischen Epoche des Realismus.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht in eine klare Zweiteilung unterteilt ist, angedeutet durch das „II.“ nach der siebten Strophe.

Inhaltlich geht es zunächst um die Schönheit und Erneuerung der Natur, speziell des Waldes im Frühling, der von der Dichterin als Ausdruck des Triumphs und der Befreiung personifiziert wird. Luise Otto-Peters zeichnet ein Bild von der Natur als einem Ort der Faszination und Wonne, an dem das Leben in all seinen Formen gefeiert wird. Sie betont die Möglichkeit, sich in der Schönheit und Freude der Natur zu verlieren, als eine Art spirituelle Sehnsuchtsbefriedigung. Auf der inhaltlichen Ebene wird jedoch mit der achten Strophe eine Neuausrichtung vollzogen: Obwohl das Ruhen und Sterben in der Natur als wunderbar dargestellt wird, erhebt die Dichterin das kühne Streben und Schaffen des Menschen, speziell die Schaffung von Schönheit durch Kunst, als höheres Ziel.

Das lyrische Ich behauptet, dass die Kunst - im Gegensatz zur Natur - uns zu höheren Ebenen der Unsterblichkeit erhebt, weil sie den menschlichen Geist verkörpert und Ausdruck menschlicher Kreativität und Schöpfungskraft ist. Kunst wird als Ausdruck des Göttlichen und Ewig-Wahren dargestellt, das die Möglichkeit bietet, sich selbst zu erkennen und zu erhöhen und dadurch Glück und Leben zu finden. Die Dichterin geht so weit zu behaupten, dass durch die Kunst Gott gefunden und Erlösung erreicht werden kann.

In Bezug auf die Form des Gedichts fällt auf, dass es aus 64 Versen besteht, die in 16 Vierzeilenstrophen organisiert sind. Es gibt kein festes Reimschema. Die Sprache des Gedichts ist reich an metaphorischen Bildern und Personifikationen, besonders in Bezug auf die Natur und die Kunst. Die Natur wird durch Bilder der Frühlingswiedergeburt und Schönheit und durch Personifikationen, wie sie dem Frühling den Siegeskranz aufs Haupt drückt, lebendig gemacht. Die Kunst wird metaphorisch als „Himmelskind“ und Ausdruck des Göttlichen dargestellt. Sie enthält auch wiederholte Anspielungen auf spirituelle und religiöse Konzepte, einschließlich Anspielungen auf Erlösung, Unsterblichkeit und das Göttliche.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Natur und Kunst“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Louise Otto-Peters. Die Autorin Louise Otto-Peters wurde 1819 in Meißen geboren. Im Jahr 1870 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das 321 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 61 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Weitere Werke der Dichterin Louise Otto-Peters sind „Am längsten Tage“, „An Alfred Meißner“ und „An August Peters“. Zur Autorin des Gedichtes „Natur und Kunst“ haben wir auf abi-pur.de weitere 106 Gedichte veröffentlicht.

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