Nachtgespenst von Marie Eugenie Delle Grazie

Ich lag in holden Traumes Bann:
Blau durch die Scheiben quoll
Des Mondes Licht und überrann
Die Wände zaubervoll;
Und schuf im Nu ein Märchenland,
Der Sehnsucht lockend nah –
Was jemals ich begehrt, es stand
In seinem Schimmer da;
Ein Schritt nur – und ich schwelgte d’rin!
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Ein Griff – und es war mein!
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Und schwindelnd fuhr’s mir durch den Sinn:
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„Das Glück! Nimm’s, es ist dein!“
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Da schlich sich an mein Lager sacht
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Ein bleiches Grau’ngesicht,
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Mit Augen, trostlos wie die Nacht,
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Wenn sie kein Stern durchbricht;
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Mit Händen, eifrig, grabesschwer
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Und lastend, hart wie Erz,
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Und diese Hände preßte er,
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Der Unhold, mir auf’s Herz;
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Bis Wunsch und Kraft und Wille floh
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Und starb in dumpfer Ruh’,
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Dann nickte er: „Ich will es so!
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Nun Menschlein – träume zu!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Nachtgespenst“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
133
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Der Verfasser des Gedichtes ist Marie Eugenie Delle Grazie, eine österreichische Schriftstellerin, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebt.

Der erste Eindruck ist eher düster und beängstigend, das Gedicht zeugt von tiefgehenden inneren Gefühlen und Auseinandersetzungen.

Das Gedicht erzählt die Geschichte einer nächtlichen Erscheinung. Das lyrische Ich liegt zunächst in einem „holden Traumes Bann“, von Träumen und Wünschen erfüllt. Durch die Kraft des Mondlichts, das durch das Fenster fließt, fühlt es sich fast so an, als ob das lyrische Ich seine tiefsten Wünsche und Sehnsüchte erreichen könnte.

Dieses Glück wird jedoch gestört, als sich ein unheimliches Wesen, ein „Nachtgespenst“, an das Bett des lyrischen Ichs heranschleicht. Dieses Wesen hat ein gruseliges Aussehen, es wird als „bleiches Grau'ngesicht“ mit trostlosen Augen beschrieben, und es legt seine schweren Hände auf das Herz des lyrischen Ichs. Unter diesem Druck fliehen „Wunsch und Kraft und Wille“ des lyrischen Ichs, und es bleibt zurück in träumerischer Stille.

Das lyrische Ich scheint hier die Konfrontation mit Ängsten oder Sorgen zu thematisieren, welche seine Träume und Wünsche gefährden. Das Gedicht zeigt, dass Glück und Freude, die durch die erfüllten Wünsche entstehen könnten, oft durch Ängste und Zweifel zerstört werden, symbolisiert durch das Nachtgespenst.

In Bezug auf die Form des Gedichts handelt es sich um ein 24-zeiliges Gedicht in gereimten Versen, aufgeteilt in einen einzigen Block ohne spezifische Strophenaufteilung. Die Sprache des Gedichts ist sehr bildhaft und es dominiert die Personifikation – das „Nachtgespenst“ erhält menschenähnliche Attribute. Es verwendet auch reichlich Metaphern und Vergleiche, um die dichotomischen Gefühle des lyrischen Ichs - Freude und Angst, Stärke und Schwäche - zu veranschaulichen.

Insgesamt thematisiert das Gedicht universelle menschliche Erfahrungen und Gefühle und schafft es, eine tiefe Verbindung mit dem Leser herzustellen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Nachtgespenst“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Marie Eugenie Delle Grazie. Delle Grazie wurde im Jahr 1864 in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1892 zurück. In Leipzig ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Bei Delle Grazie handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 133 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 24 Versen mit nur einer Strophe. Die Dichterin Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für Gedichte wie „Addio“, „Addio a Capri“ und „Apoll vom Belvedere“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Nachtgespenst“ weitere 71 Gedichte vor.

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