Nachtbild von Ada Christen
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Nacht bedeckt den kleinen Friedhof. |
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In dem dumpfen Leichenhause |
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Flackert zitternd einer Lampe |
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Rothe Flamme. – Heiser knarren |
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Jene Thüren, die das Leben |
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Sorgsam von dem Tode trennen. |
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Meine Hand hat sichern Druckes |
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Sie geöffnet; wie im Schlafe |
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Aber wandelnd, dacht’ ich nimmer, |
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Sie zu schließen. – |
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Leise, wie mit Geisterstimmen |
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Klagt der Wind dort in den Weiden, |
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Pochet zürnend an die Fenster, |
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Flüstert mit den kranken Blumen, |
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Die aus der Verwesung sprießen, |
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Treibet mit den Wetterhähnen |
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Auf dem Thurm sein ächzend Spiel, |
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Flieget wimmernd um das Häuschen, |
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Daß die Fenster ängstlich klirren |
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Und die Flamme furchsam zuckt ... |
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Jener bangen rothen Flamme |
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Schwankend Leuchten schien ein Winken, |
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Dem ich folgte, traumbefangen, |
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Und nun steh’ ich in dem engen |
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Schaurig-öden, kahlen Stübchen, – |
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Ich allein bei einem Todten. |
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– – – – |
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Auf zwei Schragen und zwei Brettern |
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Ruht der Todte, alt und häßlich, |
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Nur in Lumpen eingehüllet; |
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Ihm zu Haupte brennt die Lampe, |
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Deren zuckend rothe Lichter |
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Öfter wie ein Lächeln gleiten |
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Über die erstarrten Züge |
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Des verkommenen Gesellen. |
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Eine harmlos gläub’ge Hand |
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Suchte seine wildgeballten, |
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Nun im Tod gekrampften Hände |
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Fromm zu falten, wie bei Jenen, |
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Deren Leben schloß ein Beten. – |
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Auf zwei Schragen und zwei Brettern |
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Ruht der Todte, still und einsam, |
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Schläft den letzten, traumlos, leeren, |
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Ewigen Schlaf..... |
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Noch am Morgen jagten Bosheit, |
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Breit Behagen – dem das Elend |
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Unverständlich – Rohheit, Kaltsinn |
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Ruhlos ihn von Thür zu Thüre, |
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Und des Abends wankte jener |
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Unglücksel’ge, wie betrunken, |
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Durch die Straßen. Hunger weinte |
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Aus den kranken, trock’nen Augen, |
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Aber Trotz zuckt um die Lippen, |
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Als die Buben, die ihm folgten, |
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Näher trabten, um das Unthier |
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Zu beschauen, das man eben |
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Auf Befehl der weisen, milden |
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Obrigkeit von dannen hetzet. |
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Vagabund! so klingt es lachend |
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Aus dem Munde wilder Kinder; |
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Vagabund! so klingt es höhnend |
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Aus dem Mund der klugen Alten; |
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Vagabund! schreit roh der Büttel; |
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Vagabund! so ächzt er selber, |
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Weitertaumelnd. – – – |
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An der Straße, bei der Grenze |
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Todesmüde sinkt er nieder. |
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Fern verklinget das Gejohle |
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Jener tugendsamen Meute, |
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Die ihn hetzte und befriedigt |
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Von dem Schauspiel heim jetzt kehret |
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Zu dem Herde. – |
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Dunkel senket schon die Nacht sich |
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Nieder auf die stille Erde, |
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Und es senket auch die Nacht sich |
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Nieder auf die dunkle Seele |
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Des Gehetzten, des Verfluchten; |
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Über seinem armen Antlitz, |
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Grau, wie Spinngeweb’ gebreitet, |
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Liegen Elend und Verzweiflung. |
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Stumm umklammert er den Grenzstein |
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Und starrt finster nach dem einz’gen |
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Trüben Sterne, der herabschaut, |
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Auf sein Elend. – |
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Und es lösen von dem Steine |
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Los sich seine feuchten Hände |
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Und sie zucken, zittern, haschen |
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Nach den dunklen Nebelschatten. |
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Wild empor sind sie gerichtet, |
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Eine stumme, fürchterliche, |
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Himmelstürmend, crasse Drohung, |
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Wild empor noch schreit der Augen |
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Gottverneinend herbe Klage. |
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Aber plötzlich sinken nieder |
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Seine Arme; es verlöschen |
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Seiner Blicke letzte Blitze. |
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Von dem schwarzen Himmel knisternd |
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Fällt der einz’ge Stern hernieder, |
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Und ein Windstoß, zaust die Haare |
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Einer Leiche ..... |
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War es wie bei jenen Geiern, |
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Die da wittern, wo das Aas liegt, |
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Das sie nährt sammt ihren Jungen? |
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War es des Geschäftes Eifer, |
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Der ihn trieb, Dich aufzusuchen? |
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Denn es fand Dich, der berufen, |
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Sich zu nähren von den Todten, |
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An dem Grenzstein fand Dich, einsam, |
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Kalt und todt der – Todtengräber. |
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Mit den rauhen, derben Händen |
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Trug er selbst Dich in das Stübchen, |
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Das bestimmt ist für die Leichen |
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Jener, die am Wege sterben; |
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Für die Gott- und Weltverlass’nen |
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Ist dies Stübchen, ist der Schragen. – |
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Morgen aber scharret ein Dich, |
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Dort im letzten Friedhofwinkel, |
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Einsam, wie er Dich gefunden, |
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Für gar kargen Lohn der Alte, |
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Er allein kann Dich verwerthen: |
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Tod ist Brot ihm! – |
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Und doch trug auf seinen Händen |
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Dich ein Mensch zum Ort des Friedens, |
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Und es schlug ein Menschenherz |
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Einmal doch an Deinem Herzen..... |
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Schaurig Mitleid: Dich verspottend |
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Noch im Tode, giebt er Dir nun, |
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Was im Leben Dir wohl nimmer |
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Ist geworden: Licht und Ruhe |
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Dach und Hände, die Dich nimmer |
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Von sich stoßen!.... |
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– – – – – – |
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Nacht bedeckt den kleinen Friedhof, |
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In dem dumpfen Leichenhause |
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Flackert ängstlich knisternd, zuckend, |
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Jener Lampe rothe Flamme, |
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Deren Schwanken mir ein Winken, |
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Dem ich folgte traumbefangen – |
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Und noch steh’ ich in dem engen |
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Schaurig-öden, kahlen Stübchen, – |
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Ich alleine bei dem Todten! – |
Details zum Gedicht „Nachtbild“
Ada Christen
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142
678
1870
Realismus
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht „Nachtbild“ stammt aus der Feder von Ada Christen, einer österreichischen Schriftstellerin aus dem 19. Jahrhundert. Christen ist als bedeutende Vertreterin der sozialkritischen Literatur in Österreich bekannt und ihre Werke spiegeln oft die sozialen Ungerechtigkeiten und das Leiden der Armen zu ihrer Zeit wider.
Beim ersten Lesen fällt sofort die düstere, melancholische Atmosphäre auf, die durch die ausführliche Beschreibung der nächtlichen Szenerie auf einem Friedhof kreiert wird. Diese Stimmung wird durch den ersten und den letzten Vers des Gedichts verstärkt, die wie Klammer den gesamten Text umschließen und so die Endlichkeit des Lebens hervorheben.
Inhaltlich beschreibt das lyrische Ich den Tod eines obdachlosen Mannes, der seine letzte Ruhestätte auf einem kleinen Friedhof gefunden hat. Dieser Mann wurde zu Lebzeiten von der Gesellschaft verachtet und herabgewürdigt, doch im Tod findet er Ruhe und Akzeptanz. Das lyrische Ich scheint von einer tiefen Traurigkeit und Bestürzung über das Schicksal dieses Mannes erfüllt zu sein, was aus der sorgfältigen Beschreibung seiner sterblichen Überreste und der Umstände seines Todes hervorgeht.
Formal ist das Gedicht in freien Versen geschrieben, die nicht an ein festes Reimschema gebunden sind. Dies unterstützt den ernsten, fast schon reportagehaften Ton des Gedichts. Die Sprache von Ada Christen ist dabei sehr bildgewaltig und detailreich. Sie beschreibt den nächtlichen Friedhof und den Leichnam so lebhaft, dass sie ein fast schon greifbares Bild hervorrufen. Es dominiert die Farbe Rot in Form der „rothen Flamme“, die sowohl als sprachliches Bild des Todes, als auch als Metapher für das einzige Licht und den einzigen Trost in der Dunkelheit dient.
Das Gedicht „Nachtbild“ von Ada Christen ist ein starkes sozialkritisches Werk, das auf eindringliche Weise das Elend und die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aufzeigt. Gleichzeitig betont es die unausweichliche Gleichheit aller Menschen im Tod, unabhängig von ihrem sozialen Status zu Lebzeiten.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Nachtbild“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Ada Christen. 1839 wurde Christen in Wien geboren. 1870 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Hamburg. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das Gedicht besteht aus 142 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 678 Worte. Weitere bekannte Gedichte der Autorin Ada Christen sind „Auf dem Meere“, „Auf den Bergen“ und „Belle Helène!“. Zur Autorin des Gedichtes „Nachtbild“ haben wir auf abi-pur.de weitere 81 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Ada Christen sind auf abi-pur.de 81 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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